Glutnester
recht zur Weißglut. »Es wird nicht besser, wenn du’s uns stückweise mitteilst. Was hat der Anfänger verbockt?«
»Das mit dem Anfänger stimmt zwar nur bedingt, aber verbockt hat er trotzdem was.« Hörnchen legt eine strategische Pause ein, als könnten Elsa und Degenwald sich so besser auf das nun Folgende vorbereiten. Was keinesfalls den Tatsachen entspricht. »Die Veronika hat ein Kind entbunden.«
In Karl Degenwalds Büro ist es mucksmäuschenstill.
»Wann war das?«, will Elsa sofort wissen.
»Wann eine Frau schwanger war, lässt sich bei einer Obduktion nicht feststellen. Aber Veronika hat entbunden. Zweifelsfrei. Mein Assistent hat leider ihren Dammriss übersehen. Fragt mich um Himmels willen nicht, wie das passieren konnte. Er hat bereits eine Abmahnung erhalten. Eine saftige. Ich habe trotzdem das für euch wichtige Datum. Als Wiedergutmachung hab ich recherchiert. Zwei Anrufe genügten. Die Veronika hat das Kind, von dem sie entbunden wurde, gleich nach der Geburt zur Adoption freigegeben. Am Tag der Entbindung noch. So, und jetzt findet mal heraus, welch Gräuel sich hinter derartigem Tun versteckt. Eine Frau gibt doch nicht einfach so ihr Neugeborenes in fremde Hände. Und wer der Vater ist und welche Rolle er in diesem Drama gespielt hat, würde mich selbstverständlich auch interessieren.« Michael Horn faltet die Hände vor seinem nicht vorhandenen Bauch und holt tief und genüsslich Luft.
»Also hat Veronika Steffel damals ›Vater unbekannt‹ angegeben«, vermutet Degenwald.
»Hat sie, mein Lieber«, bestätigt Hörnchen eifrig nickend. »Es dürfte allerdings nicht allzu schwer sein, Licht in dieses verdorbene Dunkel zu bringen.« Hörnchens Gesicht sieht auf einmal schwammig aus. Als habe sich zu viel Wasser im Gewebe eingelagert. »Ich hätte der Veronika nie und nimmer zugetraut, dass sie ihr eigen Fleisch und Blut verleugnet.«
»Wer von uns weiß schon, was im anderen vorgeht?«, meint Elsa nachdenklich.
»Wie auch immer. Für Derartiges hab ich wenig bis gar kein Verständnis. Ein Säugling ist kein Experimentierfeld. So ein Würmchen braucht seine Mutter«, wird Michael Horn tiefgründig. »Geradewegs in fremde Arme hat sie’s gegeben.« Er seufzt betreten. »Was aus dem Säugling von damals wohl geworden ist?«
»Wie alt ist Veronikas Tochter oder Sohn denn heute?« Degenwald fixiert Hörnchen. Dem Glück musste man tapfer entgegengehen. Offenbar hatte Veronika Steffel damals genau das unterlassen.
Michael Horn legt, nachdem seine Hände mit sicherem Griff in seine Tasche langen, einen beschriebenen Zettel vor Degenwald auf den Schreibtisch. »37 ist er inzwischen, Karli. Jetzt weißt du’s.« Mit der Andeutung eines Nickens verabschiedet sich der Gerichtsmediziner, steht auf und verlässt erleichtert, weil er ein für ihn schwerwiegendes Geständnis losgeworden ist, das Büro.
»Für manche ist das Leben eine brusttief mit Wasser gefüllte Furt. Nichts Großartiges. Für andere ist sie ein Meer, in dem man jederzeit ertrinken kann. Auch wenn man Schwimmer ist. Wer hat also recht?«, stellt Elsa in den Raum.
»Seltsame Frage«, entgegnet Degenwald und rutscht von seinem Schreibtisch hinunter. »Wegen dieser Überlegungen finden Morde statt. Deswegen üben wir unseren Beruf aus.« Er legt steifbeinig einige Schritte quer durch sein Büro zurück.
»Der Hintergrund unserer beiden Todesfälle liegt in diesen und ähnlichen Fragen verborgen. Die Lösung lässt sich garantiert in der Beziehung der beiden Schwestern finden. Jetzt, wo wir wissen, dass Helga Kratzer bei der Veronika war, noch mehr.« Elsa hat sich vor ihren Kollegen gestellt und hält ihn so davon ab, weitere Runden durch den Raum zu drehen.
»Ich kann Ihnen, was Helgas Fußabdrücke betrifft, zwar nicht folgen. Aber eine Frage stelle ich mir die ganze Zeit schon. Wo ist das Bindeglied?«, überlegt Degenwald laut vor sich hin, während er Elsa elegant beiseiteschiebt und erneut beginnt, in seinem Büro auf und ab zu wandern.
»Anders gefragt: Wer hat die Verbindung zwischen Luise und Veronika begründet und aufrechterhalten? Ein Mann. Das ist naheliegend. Ich behaupte, Roland Gasteiger war’s. Er ist der Dreh-und Angelpunkt in der Geschichte. Und deshalb werde ich ihn mir noch mal vornehmen. So, wie ihn sich noch keine Frau vorgenommen hat«, verspricht Elsa.
Ehe sie Degenwalds Büro verlässt, hält er sie mit einem vorläufigen Satz zurück. »Ich würde mich wesentlich besser fühlen, wenn ich die
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