Glutnester
würden den Schlüssel, auf dem sich vermutlich nur noch seine Fingerabdrücke befänden, zur Spurensicherung geben, und er wäre raus aus der Sache. Doch genau deshalb wird er den weniger seriösen Weg gehen und erst mal an einer schaurig-schönen Geschichte für seine Leser basteln. Mord innerhalb der Familie, im nächsten Umfeld, wird er in den Raum stellen. Ein bisschen Schwung in die Sache zu bringen, konnte nicht schaden. Die Schlagzeile wäre ihm sicher. Vielleicht könnte er sogar eine Serie daraus machen. Fangt den Mörder! Danach, nachdem er die Geschichte skizziert hat, kann er den Schlüssel immer noch dorthin bringen, wo er hingehört. Vielleicht bekommt er sogar das Angebot, zu einer besseren Zeitung zu wechseln. Was Überregionales wäre nicht schlecht. Zumindest wäre eine Gehaltserhöhung drin, wenn er die Sache richtig ausschlachtet. Speckbacher lächelt gerissen.
Der Tag hatte um kurz nach sieben wie einer dieser Tage begonnen, die verzichtbar waren. Doch jetzt wendete sich das Blatt. Der Morgen, der noch knauserig gestartet war, steigerte sich zu einem voll erblühten Nachmittag. Mit etwas Glück würde das Ganze in einen stabilen Abend übergehen. Speckbacher legt seine Befangenheit diesem Tag gegenüber ab und beginnt, fröhlich zu pfeifen. Bis ihn eine alte Emotion einholt und sofort ruhigstellt. Sein Pfeifen erstirbt und das Denken geht wieder los. Sein Leben ist trotz allem Stückwerk. Ein Leben, das seit jeher von labiler Energie beherrscht wurde und noch immer wird. Diese Energie wühlt erneut den Tag auf, jeden einzelnen seiner Tage. Auch den heutigen. Bis sich alle Stunden verausgabt haben. Speckbacher lässt seine Bassstimme für sich selbst erklingen. »Das wird schon!«, grunzt er und tippt mit dem Bleistiftende Marschmusik auf seinen Schreibtisch. »Wird schon werden, Alter! Manche schaffen’s spät, aber doch. Du, zum Beispiel«, spricht er sich selbst Mut zu, während der Bleistift klopft und klopft und die Melodie in Gerd Speckbachers Kopf vorauseilt. »Dein Leben wird nicht länger ein vergilbtes Bild mit Flecken drauf sein.« Er will, dass es frisch und anders als bisher weitergeht. Ein neuer Schnappschuss sozusagen. Ein ins Behagliche verlaufendes Bild. Vor vielen Jahren waren Fotos aktuell, die mit Weichzeichner aufgenommen worden waren. So stellt er sich seine Tage vor. Weich und wohlgefällig.
Doch da ist die alte, klaffende Wunde – rotes, aufgeworfenes Fleisch und trübes, übel riechendes Sekret, das abgesondert wird –, die das Bild hart erscheinen lässt. Die Wunde nässt ständig. Schürt den Drang in ihm, etwas zu vernichten. Er kennt den Ursprung all dessen. Es fing damals an. Als man ihn weggab. In eine seelenlose öffentliche Einrichtung. Später an Fremde. Leute, die nach außen schöntaten. Im Inneren jedoch unnahbar, manchmal sogar hässlich, später, als er tat, was sie nicht guthießen, gemein und ungerecht waren. Es folgten Verbote, schlimme Namen, die man ihm gab, Schläge. Da hat es begonnen. Die Wut nahm ihn ganz ein. Das war der Zeitpunkt, an dem er kapitulierte.
Elsa ist noch mal nach Kruchenhausen gefahren, um sich dort umzusehen. Beim Hof der Gasteigers angekommen, versucht sie erneut, Anna zu erreichen. Wieder umsonst.
»Verflixt! So war das nicht ausgemacht«, ärgert Elsa sich lautstark und drückt die Aus-Taste. Wieso hielt Anna sich nicht an ihre Abmachung? Erreichbar sein. Pläne für den Abend, vor allem kulinarische Pläne, konnte man letztendlich nur schmieden, wenn man miteinander sprach. »Verdammte Pubertät«, entkommt es Elsa zum wiederholten Mal.
Sie steckt ihr Handy achtlos in die Handtasche, steigt aus dem Wagen und stapft auf den Eingang des Bauernhofs zu. Die Tür zum Privatteil steht einen Spalt weit offen. Wie eine Einladung. Elsa klopft laut an und tritt ein. Von Helga und Hubs Kratzer ist weit und breit weder etwas zu sehen noch zu hören.
»Jemand da?«, ruft Elsa in die beginnende Düsternis des engen Flurs hinein. Sie bekommt keine Antwort. Ihr bleibt nichts übrig, als die sich vor ihr aneinanderreihenden Türen, eine nach der anderen, aufzustoßen. Nachsehen, ob doch jemand zu Hause ist. Schließlich ließ man nicht einfach so die Tür zu einem Wohnhaus offen stehen. Vielleicht saß jemand mit Kopfhörern in einem der Zimmer oder alle waren im Stall oder irgendwo im Gelände unterwegs. Nicht weit weg jedenfalls. Der Hund kommt plötzlich laut bellend angelaufen. Von wer weiß woher. Er bleibt drohend vor Elsa
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