Glutnester
Couchtisch gestellt hat, die Bourbonflasche aber nicht anrührt. Anstatt sich einzuschenken, blickt er beim Sprechen zum Arbeitstisch hinüber, auf dem das gepolsterte Kuvert und der Schlüssel einträchtig nebeneinanderliegen. Auf dem Tisch rauscht sein aufgeklapptes Notebook, kaum hörbar, vor sich hin. Degenwald wird hoffentlich nicht hingehen, um den Schlüssel als etwas zu identifizieren, das von Rechts wegen ihm zusteht. Fotos vom Schlüssel hat er bereits gemacht, einen Abdruck ebenfalls. Um die Richtigkeit der Angabe auf dem Kuvert, es handle sich dabei um den Schlüssel zu Luise Gasteigers Schlafzimmer, notfalls auch ohne Originalschlüssel, also auf jeden Fall überprüfen zu können. Speckbacher ist Profi, auch wenn er beruflich nie richtig durchgestartet ist. Er weiß, wie’s geht. Wie er so neben dem Polizisten sitzt, vor sich hin simulierend, kommt er immer wieder zum selben Ergebnis. Nämlich, dass er sich getrost zurücklehnen kann. Was soll schon passieren? Der blau gefärbte Lichtschein, Vorbote des beginnenden Abends, der das Zimmer noch nicht ganz einnimmt, sondern vorsichtig durchflutet, beruhigt Speckbacher.
Doch die Ruhe dieses Moments und seine Gedanken an Sicherheit, all das trügt. Es scheint zwar so, als könne ihm nichts in die Quere kommen. Vor dem, was Karl Degenwald sich im Kopf ausmalt, ist ihm nicht bange. Was geht ihn das an?
»Gut zu wissen, wer die Mutter ist, aber wie steht’s mit dem Vater?«, holt Degenwald zum kalkulierten Eröffnungsschlag aus. »Veronika Steffel hatte ›Vater unbekannt‹ angegeben. Als wisse eine Frau nicht, wer der Mann bei der Sache war. Sind Sie jetzt, wo Ihre Mutter Ihnen nicht mehr Rede und Antwort stehen kann, nicht bestrebt, Ihren Vater zu finden? Und zwar so schnell wie möglich?«
Die Vergangenheit wiegt plötzlich schwerer als der Augenblick. Vor ihr ist Gerd Speckbacher nicht gefeit. Degenwald sieht es seinem Gesicht an. Zwischen Speckbachers Augen ist der schutzlose Schrei der Verunsicherung abzulesen. Und der des Hasses. Am liebsten würde er Speckbachers Innerstes auswendig lernen. Um ihn ganz und gar zu begreifen. Speckbachers Gesicht ist in diesem Moment befreit von jeder sozialen Rücksichtnahme. Sein Vater ist nicht sein Vater, sondern nur ein verdammter Kerl, der ihm Fürchterliches angetan hat. Eine Kindheit unter lauter Fremden. Seitdem befand sich sein Leben in Schieflage.
Die Vergangenheit schlägt wieder zu. Sie ist wie ein Boxer, der Gerd Speckbacher täglich angreift, drangsaliert und übel zurichtet. Die Vergangenheit hat erneut ihr Lasso nach ihm ausgeworfen, hat Gerds Oberkörper erreicht. Das Seil ist an seinen Rippen entlanggeglitten, das Schicksal zieht an, zurrt ihn fest, und so steht er da. Gefangen, obwohl er sich noch bewegen kann. Er wird rennen, so schnell er kann. Trotzdem kann er nicht entkommen. Das Lasso lässt ihm lediglich eine begrenzte Möglichkeit. Es ist eine Attrappe der Freiheit. So wird er mitten in eine weit zurückliegende Geschichte hineintappen. Wird in einen Strudel geraten, der ihn ins Zentrum des Orkans zieht. Eine Weile wird er zappeln und stöhnen und sich schließlich um sein Leben denken. Der entscheidende Gedanke wird ein tödlicher sein. Die Emotion, die hinter diesem Gedanken lauert, wird ihn zu einem anderen Menschen machen.
Elsa steht in der Küche und räumt die Einkäufe in den Kühlschrank. Sie geht geradezu penibel vor. Rückt schief Stehendes gerade – ein Gurkenglas, die Buttermilchpackung und das Glas Oliven – und platziert neu Gekauftes akkurat daneben. Alles blitzsauber, nachdem sie an einigen Gläsern hinuntergeronnenes Öl und klebrige Flecken von Marmelade entfernt hat. Während Elsa schlichtet und verstaut, horcht sie angespannt auf jedes noch so leise Geräusch. Ihr Handy liegt gut sichtbar auf der Arbeitsplatte, neben dem Kräutertopf. Basilikum. Für italienische Gerichte, die Anna besonders gern mag. Pasta asciutta zum Beispiel oder Pizza, deren Teig und Belag Elsa, wenn sie Zeit und Lust hat, manchmal in Eigenregie übernimmt.
Doch es bleibt die ganze Zeit über totenstill. Viel zu leblos für Elsas Geschmack. Sie versucht, ihr lächerliches, unnützes Tun in die Länge zu ziehen. Solange sie in der Küche herumhantiert, muss sie nicht die ganze Zeit an Anna denken. Sie findet, es reicht, wenn sie ihr jeden zweiten Atemzug widmet. Luft einatmen, Elsa arbeitet drauflos, Luft ausstoßen, Elsa nimmt das Eingeschnürtsein im Brustkorb wahr. Während sie gegen
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