Glutnester
offensichtlichen Schwärmerei.
Hörnchen verspürt selbst den dringenden Wunsch, sich umzuschauen. Seit Jahren schon, seit dem Tod seiner Frau, tappt er allein durch die Tage. Gut, die Tage gingen ja noch, da ist er beschäftigt. Aber die Nächte? Die sind ihm, eine um die andere, zu viel geworden. Er hat natürlich hier und da eine Affäre genossen. Zuletzt im Urlaub. In Thailand. Auch wenn man das eigentlich gar nicht aussprechen dürfte. Weil das Klischee, alter Mann vergnügt sich mit jüngerer Thailänderin, einfach geschmacklos ist. Aber als Rechtsmediziner brauchte man nun mal was Lebendiges, um die Todeslücken zu füllen. Sonst drehte man durch. Sonst wurde der Tod zur Beklemmung, die man mit ins Private nahm. Vielleicht sollte er sich eine Philippinerin oder eine Russin besorgen, die er heiraten konnte. In Marquartstein kam so was zwar nicht unbedingt gut an. Aber nach einer Weile des Wunderns und Tratschens würden sich die Leute schon an seinen Anblick mit der jungen Frau an der Seite gewöhnen. Und in München krähte ohnehin kein Hahn danach, ob und mit wem er verkehrte. Vor allem sexuell. Das war den Leuten egal. Man würde ihn höchstens dafür bewundern, dass er noch eine Junge abbekommen hatte.
Hörnchen schaut sich im Internet um. Klickt sich durch die Seiten einer Partnerschaftsbörse. Er merkt, während er auf hübsche Frauen schaut und die Fragen, seine Person und seine Vorlieben betreffend, zu beantworten beginnt, wie es in seiner Hose enger wird.
»Herrschaftszeiten, ich bin halt ein Mannsbild«, verteidigt er sich. Obwohl sich niemand im Raum befand und kein Angriff gestartet worden war. Er brauchte was zwischen die Finger und auch woanders hin. Schließlich wusste er nur zu gut, wie wichtig ein geregelter Hormonhaushalt war. Darum konnte man sich nicht genug kümmern.
Die Tür zu Elsas Haus wird leise, fast bedächtig geöffnet. So als habe derjenige, der eintreten will, Bedenken, er könne stören. Jemand tritt in den Flur, legt seine Sachen auf die Kommode, zieht die Schuhe aus und kommt ins Wohnzimmer. Ein Blick, groß aufgerissene Augen, ein verhaltener Schrei, der sich nicht entscheiden kann, ob er wirklich Schrei oder knapper Ausruf sein soll. Dann rennt die Person, die das Haus betreten hat, quer durch den Raum. Wirft dabei eine teure Vase aus Murano um, die Elsa und Hartmut in den ersten Jahren ihrer Ehe in Venedig gekauft hatten. Es scheppert und klirrt. Bunte Glassplitter verteilen sich überall auf dem Boden. Dann ist die Person dort, wo sie hin wollte.
»Mama! Was ist passiert?« Anna kniet über ihrer Mutter, die leblos am Boden liegt. Sie beginnt, mit ihren Händen gegen die Wangen der Gestürzten zu schlagen. Zuerst leicht. Dann fester.
Für Anna sieht es so aus, als wäre das Daliegen ihrer Mutter ein persönlicher Angriff. Weil sie zu spät dran ist. Sich nicht gemeldet hat. Dann ist ihr klar, dass etwas passiert sein muss. Vor Annas Augen läuft ein Film ab. Sie sieht sich dabei zu, wie sie die Landstraße entlanggelaufen ist. Sie hat lange niemanden gefunden, bei dem sie hätte mitfahren können. Also ist sie gelaufen. Hat die Anrufe ihrer Mutter mit jedem Meter, den sie Richtung Zuhause zurückgelegt hat, verstreichen lassen. Sie hätte sich nicht getraut, ans Handy zu gehen. Hätte sich schwergetan, ihre Mutter schamlos zu belügen. Sie weiß ja, was Elsa vom Trampen, solch zweifelhaften Arten der Fortbewegung, hielt. Gar nichts. Also das Klingeln negieren. So tun, als sei man nicht erreichbar.
»Mama, wach auf!«, verlangt Anna eindringlich. Sie merkt gar nicht, dass ihr die Tränen wie Sturzbäche die Wangen hinabschießen. Sie spürt nur eine apathische Zuversicht, die sie daran glauben lässt, ihre Mutter werde bald aufwachen.
Die Worte, die sie aussprechen will, verheddern sich in ihr. Sie beginnt, das Gesicht Elsas mit nassen Küssen zu drangsalieren. Sie liebt ihre Mutter so sehr und wird sich des Ausmaßes dieses gewaltigen Gefühls zum ersten Mal in all seiner Größe und Ausschließlichkeit bewusst. Seit das Trio Vater, Mutter, Kind zu der unumstößlichen Tatsache eines Duos, Elsa und Anna, geschrumpft ist, hat ihre Mutter einen Sonderstatus eingenommen. Die am meisten verurteilte und kritisierte Person auf der einen und die am häufigsten gebrauchte und bewunderte auf der anderen Seite. Kritik und Anpflaumen gelangen Anna jederzeit, gingen leicht über die Lippen. Den Rest, das Positive, hielt sie meist zurück. Man gestand seine Liebe nicht so
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