Glutnester
ohne Weiteres ein. Vor allem der eigenen Mutter nicht.
Annas Haut ist durch die Tränen an Elsas geschminkter Wange festgewachsen, als zuerst ein leises, unschuldiges Hüsteln, dann ein lauter, pressender Husten ihr Aufwachen dokumentiert. Elsas Brustkorb zuckt auf und nieder. Sie schlägt langsam die Augen auf. Unschuldige Augen, die Anna verblüfft, dann zaghaft lächelnd erkennen. Das Mädchen fühlt zwei Arme um sich, die sie fest umschlingen, schließlich zu erdrücken drohen.
»Mama. Lass los. Du tust mir weh!«, kämpft Anna gegen ihre Mutter an. Sie macht sich fast unwirsch los. Steht humpelnd auf. Elsa schafft es auf die Knie, stöhnt, fasst sich an den Kopf und zieht sich an einem Stuhl hoch. Sie ist noch ganz wackelig auf den Beinen.
»Was ist denn eigentlich los?«, will sie von Anna wissen. Anna weiß im ersten Moment nicht, ob sich die Frage ihrer Mutter auf deren Blackout bezieht oder darauf, wo sie so lange gesteckt hat.
»Ich bin aufgehalten worden«, traut Anna sich zu sagen. Mit der Aussage verrät sie nichts und umgeht sogar eine Lüge. Es ist der schwammigste, unnötigste Satz, den sie je ausgesprochen hat.
Er hat sie wie einen Hund an einer Birke festgebunden, eine Decke über sie gebreitet und sie allein im Moor zurückgelassen. Dann ist er, viel zu schnell, wieder nach Hause gefahren. Mit 100 Stundenkilometern, wo man nur 70 fahren durfte. Er hat sich an den Tisch gesetzt und etwas gegessen und getrunken, und dann hat es geklingelt. Er hat ihren Anblick plötzlich nicht mehr ertragen. Seit er sie in seinen Wagen gelassen hat, war er in Rausch und Blindheit gefangen. Während der Fahrt zum Chiemsee hat er sich immer wieder das ganze Ausmaß der baldigen Tat vor Augen geführt. Doch seit er mit ihr im Moor war, kamen ihm Bedenken. Ihn selbst schaudert schon so lange. Daran ist er gewöhnt. Doch damit muss endlich Schluss sein.
Er hat das Haus nach einer Weile verlassen, ist erneut in seinen Wagen gestiegen und langsam zu ihr zurückgefahren. Diesmal hat er sich an die Geschwindigkeitsbegrenzungen gehalten. Er wollte kein Risiko eingehen. Wollte nicht aufgehalten werden. Vielleicht hat er nur kurz Luft holen müssen. An einem vertrauten Ort. Zu Hause. Bevor er tatsächlich starten kann. Mit dem, was er vorhat.
Jetzt ist er wieder bei ihr. Sie zittert wie Espenlaub. Ihre Lippen würden bibbern, wenn sie könnten. Doch da ist der Knebel in ihrem Mund. Das Bibbern liest er von ihren Augen ab. Er spürt, wie sich etwas in ihm regt. Mitgefühl? Er will nicht, dass sie leidet. Gleichzeitig will er auf keinen Fall dieses verdammte Mitgefühl. Alles, was zählt, ist seine Lust. Und wenn das eine nicht ohne das andere zu haben ist, muss er das in Kauf nehmen. Er will ihr wirklich nichts tun. Aber er muss handeln.
Degenwald steht im Finsteren. Starrt auf die dunklen Umrisse der Hochplatte. Er schlägt den Kragen seines Jacketts hoch, um sich vor dem einsetzenden Wind zu schützen.
Das freundschaftlich eingefärbte Gespräch mit Speckbacher war, für seinen Geschmack, viel zu früh beendet worden. Er müsse beruflich dringend noch mal wohin, hatte der Journalist sich entschuldigt. Vermutlich eine fadenscheinige Lüge. Keine Ahnung, was der noch vorhatte. »Vielleicht will er sich in Ruhe eine Strategie überlegen, mit der er sich die Polizei vom Leib halten kann«, grübelt Degenwald laut vor sich hin. Obwohl Speckbacher auf den ersten Blick gewitzt und schlagfertig wirkte, revidierte der zweite Blick das Bild komplett. Er war nervös, zuckte hier und da mit den Augenlidern, spielte mit dem Bourbonglas in seiner Hand. Degenwald hatte sich um einen um Sachlichkeit bemühten Ton gekümmert. Speckbacher um höfliches Interesse. So war man einander begegnet. Doch bald war Degenwald in eine Unmutsfalle getappt. Das Gespräch hatte in eine Sackgasse geführt, hatte nichts gebracht. Außer dass Speckbacher immer nervöser wurde und endlich einen Bourbon in sich hineinschüttete. Insgesamt war dieser windige Journalist unauslotbar. Zum Teil brachte er geschliffene Sätze heraus. Gut, das war bei seinem Beruf zu erwarten. Er tat leutselig. Doch Degenwald bekam das Gefühl nicht gehandhabt, es handle sich bei ihm um einen gut getarnten Nichtsnutz, der sich selbst bemitleidete und seine Vergangenheit beweihräucherte. Mitunter holte Speckbacher ein kaltes Lächeln hervor wie die richtige Spielkarte im entscheidenden Moment. Aber an echtem Erkennen haperte es. Konnte er der Mörder Veronika Steffels
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