Glutnester
sein? Der enttäuschte Sohn, der sich für die Jahre des Schweigens und der inneren Begrenzung gerächt hatte? Wenn dem so war, musste er ihm das in einem harten Verhör entlocken. Denn Beweise gab es keine.
Er würde Elsa von seinen Ergebnissen, besser gesagt, dem Fehlen derselben berichten und Speckbacher morgen vorladen. Irgendein Grund dafür würde ihm schon einfallen. Oder sollte er darauf spekulieren, dass nach der Mutter der Vater dran war? Roland Gasteiger vermutlich. Zumindest einen Satz in die Richtung hatte Degenwald anbringen müssen. Dieser Satz war die ausgeworfene Angel. Speckbacher musste nur noch anbeißen.
»Schlimm, wenn der eigene Vater einen ein Leben lang hängen lässt. Wir haben einen Brief bei seiner verstorbenen Frau gefunden, der darauf hindeutet, dass Roland Gasteiger jahrelang oder zumindest immer wieder mal ein Verhältnis mit Veronika Steffel hatte. Wer, wenn nicht er, ist ihr leiblicher Vater?«
Diese Information hätte er, ohne guten Grund, nicht weitergegeben. Schon gar nicht an die Presse. In Anbetracht der Lage fand er es jedoch nützlich. Ja, unabdingbar. Er hatte einen Grund, gerade diese Info in Gerd Speckbachers Gehirn zu deponieren. Jetzt musste er nur noch abwarten, was passierte. Biss der Journalist an? Und wenn ja, was hatte er vor? Der heikle Punkt bei der Sache war, wenn jemand zu Schaden käme, wäre er derjenige, der es zu verantworten hätte. Doch wo der Lohn winkte, ließ das Risiko nicht lange auf sich warten.
Seit Speckbacher ihn verlassen hat, nimmt Degenwald sich vor, auf der Hut zu sein. Mehr noch. Am liebsten würde er diesen Journalisten beschatten lassen.
Degenwald holt die Hände aus den Taschen seiner Jacke, wendet sich ab vom Dunkel des Bergmassivs und der herannahenden Nacht, steigt in seinen Wagen und fährt das kurze Stück bis zur Frühlingstraße in der Sicherheit ungewöhnlichen inneren Genusses. Er parkt vor Elsas Haus, steigt aus dem Audi, fährt sich mit der Hand über den Kopf und durchs Gesicht, als müsse er sowohl das Haar als auch seine Gedanken richten, und spürt, dass sein Herz ungebührlich hüpft.
Anna fegt die Scherben am Boden zusammen. Der verbale Austausch mit Elsa war kurz gewesen. Obwohl mit einer längeren Aussprache zu rechnen gewesen war. »Das war nur der Kreislauf. Ich hab vergessen zu essen, Anna«, hat Elsa ihren Zusammenbruch halbherzig zu erklären versucht.
»Wenn ich mal nicht esse, gehe ich auch nicht gleich zu Boden. Geh mal zum Arzt, Mama«, hatte Anna trotzig verlangt. Jetzt redete sie schon wie eine Erwachsene und ihre Mutter gab das uneinsichtige Kind.
»Da ist nichts. Glaub mir!«, hat Elsa in ernstem Ton wiederholt. Einem, der keine Widerrede duldete. Dann ist sie in ihr Büro im Haus verschwunden und Anna ist kopfschüttelnd zurückgeblieben. Keinen blassen Schimmer, was mit ihrer Mutter los war.
Als Elsa Anna vor sich sah, fühlte sie, wie die Kräfte zurückkamen. Das Blut pulsierte wieder. Der Atem ging nicht länger stockend, sondern strich ihr geschmeidig die Kehle hinab. Alle Angst war plötzlich verschwunden. Elsa fuhr sich mit den Händen das Gesicht ab. Kein Blut. Lediglich eine kleine Beule. Als das gesichert war, wollte Elsa nicht mal wissen, weshalb Anna so spät nach Hause kam. Sie hatte ihr das schlechte Gewissen angesehen. Das reichte aus, um auf jede weitere Erklärung zu verzichten.
Danach kam ein Gedanke, der sie aufzufressen begann. Die beiden Slips, mit denen sie zu tun hatte, könnten auf etwas hinweisen, das sie und Degenwald die ganze Zeit übersehen hatten. Missbrauch! Der Moment der Klarsicht bescherte Elsa Schockwellen. Sie hatte die ganze Zeit über wie unter einer Käseglocke ermittelt. Immer schön im Kreis drehen und das unter einem Glassturz. Wo war nur ihre Erfahrung hin? Niemand hatte mit zwei Mini-Slips zu tun, ohne einen Gedanken an Missbrauch festzuhalten. Die Suche bei Marissa Kratzer hatte nichts ergeben. Und bei Gerry lohnte sich vermutlich nicht mal das Anfangen. Obwohl? Elsa merkt, wie Ekel in ihr aufsteigt. Konnte es jemanden geben, der sich an diesem bedauernswerten Mädchen schadlos hielt? Der seine Lust, seinen Trieb mit ihr in Verbindung brachte? Warum hatte jemand auf den ersten Slip den Namen ›Luise‹ geschrieben? Doch wohl nur, um klarzustellen, dass der Täter im Umfeld der Familie Gasteiger/Kratzer zu finden war. Der zweite, auf den man ihre Initialen geschrieben hatte, war vermutlich dazu gedacht, sie anzufachen. Sie sollte sich der Sache
Weitere Kostenlose Bücher