Glutroter Mond
Cade auf. Ich fahre zusammen und halte die Hände schützend vor meinen Körper, wobei die Flasche auf den Boden fällt und unter das Bett rollt. Doch Cade wollte mich gar nicht angreifen. Er kriecht auf allen Vieren auf das Bett zu und zieht die Flasche heraus. Er dreht an der roten Kappe und zieht sie ab. Dann hält er mir die Flasche hin.
»Muss ich dir etwa auch noch vormachen, wie man trinkt?«
Ich schüttele den Kopf und führe das schmale Ende der Flasche an meinen Mund. Langsam begreife ich, dass eine Flasche nichts als ein Trinkglas ist, nur mit einer sehr seltsamen Form und einem Deckel oben drauf. Vermutlich, um sie zu transportieren. Genial! In den Kommunen gibt es nur große Kanister mit einem Hahn, aus dem wir unser Trinkwasser zapfen. Alle drei Tage kommt einer der Obersten mit einem Auto und tauscht die Kanister aus.
Ich trinke eine paar tiefe Schlucke und halte Neal die Flasche hin, der es mir gleich tut. Wortlos wickele ich das Papier von dem anderen Ding ab und fördere einen Quaderförmigen braunen, porösen Gegenstand hervor, der relativ leicht ist.
»Gepresstes Brot«, sagte Cade. Er hat sich wieder in seiner Ecke niedergelassen.
Brot kenne ich. Das bekommen wir manchmal zum Frühstück oder Abendessen, aber in dieser Form ist es mir unbekannt. Ich breche es in der Mitte durch und esse eine Hälfte. Neal zögert länger als ich, sich das Brot in den Mund zu stecken. Vielleicht ist er zu stolz, um Essen von Cade anzunehmen. Ich bin es nicht. Ein kleines bisschen bin ich ihm sogar dankbar. Ich glaube nicht mehr daran, dass er uns töten möchte. Das hätte alles keinen Sinn ergeben.
***
Allmählich wird es dunkel, nur blasser Mondschein fällt durch die verdreckten Fensterscheiben. Neal rührt sich neben mir nicht, aber ich höre ihn gleichmäßig atmen. Seit einer gefühlten Ewigkeit hat niemand mehr ein Wort gesprochen. Auch Cade bewegt sich nicht, aber ich weiß, dass er wach ist. Seine Augen glühen im Mondlicht noch unheimlicher als bei Tag. Es hat draußen wieder zu regnen angefangen, Tropfen prasseln gegen die Scheibe und laufen in kleinen Bächen daran herunter.
Cade scheint mich anzusehen. Ich versuche, seinem Blick standzuhalten, aber es kostet mich all meinen Mut. Ich sehe nicht weg. Was denkt er über mich? Was hat er mit uns vor? Weshalb sitzen wir in diesem Zimmer?
»Weshalb schläfst du nicht?« Obwohl er - für seine Verhältnisse - sehr leise spricht, durchschneidet seine Stimme dennoch die absolute Stille im Raum. Sogar Neal zuckt neben mir kurz zusammen, scheint dann aber wieder einzuschlafen.
»Weil mir tausend Fragen auf der Seele brennen«, antworte ich wahrheitsgemäß.
»Und du denkst, ich würde sie dir nicht beantworten, weshalb du sie nicht stellst?« Obwohl ich sein Gesicht nur schemenhaft erkennen kann, glaube ich, dass sich sein Mund zu einem schiefen Lächeln verzieht. Seiner Stimme fehlt es nach wie vor an Wärme und Freundlichkeit, aber wenn er leise spricht, gefällt sie mir besser.
»Liege ich mit der Annahme etwa falsch?«
Cade stößt die Luft zischend zwischen seine Zähne aus. »Nein, eigentlich liegst du damit absolut richtig. Mich wundert nur, dass du es nicht einmal versuchst. Sonst werden die Menschen nicht müde, mir die Ohren vollzuheulen.
Wo gehen wir hin? Was machst du mit mir?
Bla bla bla. Mich wundert, dass ihr beiden nicht die ganze Zeit hysterisch kreischt.«
»Dann haben Sie das hier schon öfter getan? Weshalb?«
»Ach bitte, sag du. Aber bilde dir nicht ein, dass ich deshalb freundlicher zu dir bin. Und ja, das habe ich schon öfter getan. Weshalb? Wirst du bald sehen.«
»Kannst du es mir nicht einfach sagen? Oder ist es so schrecklich, dass du befürchtest, wir würden dann doch kreischen?« Obwohl ich flüstere, um Neal nicht zu wecken, lege ich dennoch Nachdruck in meine Worte. Ich kann es mir nicht erklären, aber aus irgendeinem Grund scheint die Angst, die ich vor Cade gehabt hatte, mehr und mehr von mir abzufallen und sich in trotzige Wut zu verwandeln. Ich glaube nicht mehr daran, dass er mir jeden Moment an die Kehle springen könnte. Er hat uns zu Essen und zu Trinken gegeben. Das hätte er nicht getan, wenn er nicht anderweitige Pläne mit uns hätte.
»Wir gehen in eine andere Zentrale. Nicht in die des Volkes V23, sondern in
meine
. Und da werdet ihr nach
meinen
Regeln leben. Das reicht als Erklärung.«
»Und wann brechen wir auf?« Obwohl ich unsicher bin, möchte ich es mir nicht anmerken
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