Glutroter Mond
überkommt urplötzlich der Wunsch, möglichst großen Abstand zwischen uns zu bringen. Mit einem Mal bringt mich seine Gegenwart eher zur Verzweiflung als dass sie mir Trost spendet. Dennoch bleibe ich sitzen und ziehe die Beine noch ein wenig enger an meine Brust, die Arme schlinge ich um meine Knie.
»Du weißt aber auch nicht, was er mit uns vor hat, oder? Holly, wir befinden uns außerhalb der Barrieren um unsere Stadt, weit weg von der Zentrale. Keiner wird uns suchen oder uns helfen. Ich habe nicht einmal gewusst, dass die Welt hinter dem Energieschild überhaupt noch so groß ist! Ich glaube weder, dass der Kerl uns freiwillig gehen lassen wird, noch, dass er Gutes mit uns im Sinn hat. Er ist unfreundlich, ungehobelt und ein hässlicher und brutaler Idiot ohne Gewissen obendrein.«
Es schmerzt, ihn die Wahrheit aussprechen zu hören. Aber in einem Punkt muss ich ihm widersprechen. Cade ist nicht hässlich. Seine orangebraunen Augen faszinieren mich noch immer. Dennoch hasse ich ihn, und das von ganzem Herzen.
»Was glaubst du, wo er gewesen ist, als er uns den ganzen Nachmittag hier allein gelassen hat?«, frage ich. Ich hatte zunächst geglaubt, er würde uns im Motel sterben lassen. Gefühlte Stunden waren vergangen, ehe er zurückkehrte.
»Keine Ahnung. Es interessiert mich auch nicht.«
»Hast du mit deinem Leben schon abgeschlossen?«
Neal funkelt mich zornig von der Seite an. »Jetzt sag bloß, du denkst noch immer, die Sache würde gut für uns ausgehen? Glaube mir, hätte er seine Waffe hier gelassen, hätte ich mich längst selbst erschossen.«
Mich schockieren seine Worte. Das kann er nicht ernst meinen. Das sagt er nur, weil er wütend ist. »Ich gebe noch nicht auf. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, die Obersten zu verständigen und um Hilfe zu rufen.«
Neal holt tief Luft und stößt sie als Seufzer wieder aus, dann reibt er sich mit der Hand über das Gesicht. »Hör endlich auf zu träumen. Du träumst schon dein ganzes Leben lang. Seit Jahren schleppst du eine alte Karte mit dir herum, weil du glaubst, sie würde dich einst zu deinen Eltern zurückführen. Von Kindesbeinen an lernst und schuftest du, um in die Zentrale rekrutiert zu werden. Und was hast du jetzt von deinen Träumen? Sieh dich um!«
Tränen drängen sich in meine Augen, aber ich kämpfe dagegen an. Ich möchte jetzt nicht weinen. Ich möchte Neal nicht zeigen, dass er recht hat. So lange mein Herz noch schlägt, habe ich auch noch Hoffnung.
»Carl und Candice werden uns vermissen. Sie werden nicht tatenlos bleiben, sondern die Obersten verständigen. Man wird nach uns suchen.«
Neal nimmt den Kopf in den Nacken. Mit einem dumpfen Geräusch schlägt er gegen die Wand in seinem Rücken. Er verdreht die Augen. »Wer ist dieser Cade überhaupt, hast du mal darüber nachgedacht? Er ist keiner von uns, er trägt keinen Einheitsanzug. Was, wenn er selbst einer der Obersten ist? Du hast es doch selbst behauptet und ihm bereitwillig geglaubt. Er hat ein Mal am linken Unterarm. Dir ist mit Sicherheit schon aufgefallen, dass alle Obersten eines haben, oder? Das ist ein abgekatertes Spiel, Holly! Niemand wird uns helfen, und erst recht nicht die V23er, die meiner Meinung nach dahinter stecken. Ich habe von Anfang an nicht verstanden, weshalb du so versessen darauf warst, die Stadt zu verlassen!« Jetzt bellt er mir die Worte entgegen, ein jedes schmerzt wie ein Schlag ins Gesicht. Er soll den Mund halten! Ich unterdrücke den Impuls, mir die Ohren zu zu halten.
In diesem Moment höre ich das Schloss in der Tür. Ein Schwall frischer Luft strömt herein, als Cade unter der Schwelle erscheint. Sogleich schließt er die Tür hinter sich wieder. Er wirft mir ein in Papier eingewickeltes Paket in den Schoß, dazu einen Gegenstand, der etwas größer ist als meine Hand. Er ist durchsichtig, eine klare Flüssigkeit schwappt darin hin und her. Ich rühre mich nicht, sondern starre die Dinge nur an.
»Ich dachte, du hättest Hunger und Durst?! Ich habe das ganze Auto abgesucht, um etwas zu finden. Sitz nicht rum und starre Löcher in die Luft!« Cade lässt sich wieder an der Wand hinunter gleiten, genau dort, wo er zuvor schon gesessen hatte.
Mit zitternden Fingern greife ich nach dem durchsichtigen Gegenstand, der sich nach oben hin verjüngt, ein roter Deckel verschließt ihn, kaum größer als mein Daumennagel.
»Was ist das?«
»Sag bloß, du kennst keine Flaschen mit Schraubverschluss?« Übermenschlich schnell springt
Weitere Kostenlose Bücher