Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
mit einem anderen erwischt?«, fragte Eloise sanft. Falls sie das Gespräch nicht in die richtige Richtung lenkte, würde es sich ewig hinziehen. Und je länger es sich hinzog, desto erschöpfter würde sie am Ende sein.
»Das wäre das Einfachste, was?«, sagte Marla mit einem freudlosen Lachen. »Ehemann erwischt mich in flagranti, mordet aus blinder Wut. Oder: Unglückliche Ehefrau lässt Ehemann und Kinder sitzen und verschwindet auf Nimmerwiedersehen.«
»Was ist denn passiert?«
Marla stand auf und ging zur Tür. Sie warf Eloise einen flehentlichen Blick zu.
»Ich dachte, vielleicht kann ich dich überreden, es einfach zu vergessen?«, fragte sie.
Sätze wie diese verstörten Eloise mehr als alles andere. Sie klangen vertraut und waren doch daneben. Es einfach vergessen? Sie würde liebend gern alles vergessen. Sie war nicht diejenige, die an den Toten festhielt; es waren die anderen.
»Michael kann dich nicht vergessen«, sagte Eloise.
»Nun ist es auch egal«, sagte Marla, so als hätte Eloise darüber gesprochen, »Mack ist tot. Er hat am meisten gelitten. Wenn die Wahrheit jetzt ans Licht kommt, bringt das nur neues Leid.«
Eloise hob beide Hände.
»Was kann ich tun?«
Aber Marla hörte nicht zu. Sie hörten nie zu.
»Weißt du, was mein größter Fehler war?«, fragte sie. Sie weinte. »Ich habe zugelassen, dass er mich zu sehr liebt. Ich habe ihn noch angespornt. Ich habe es genossen, so geliebt zu werden.«
»Mack hat dich geliebt«, sagte Eloise. Sie wusste nicht genau, von wem Marla sprach. »Das habe ich immer wahrgenommen.«
Marla schüttelte den Kopf.
»Nein, Eloise, nicht Mack. Michael.«
Eloise lag auf dem Boden. Neben ihr brummte der Staubsauger. Sie streckte eine Hand aus, schaltete das Gerät ab und ließ sich wieder auf den Teppich sinken, um in die Stille zu lauschen. Sie hatte Kopfschmerzen, wahrscheinlich vom Sturz, an den sie sich nicht erinnern konnte. Einmal hatte sie eine Frau kennengelernt, eine andere sogenannte Hellseherin , die zu Hause, wo sie die meisten Visionen erlebte, stets einen Helm trug. So viele Schläge gegen den Kopf können für eine Lebende unmöglich gesund sein. Die Toten nehmen keinerlei Rücksicht auf uns, also müssen wir uns selbst schützen.
Vor dem Autounfall hatte Eloise so gut wie keinen Glauben gehabt und sich noch weniger mit Religion beschäftigt. Sie glaubte nicht an die Kirche, obwohl sie katholisch erzogen worden war. Die Vorstellung von Himmel und Hölle, das göttliche System, das auf Belohnung und Strafe basierte, erschien ihr viel zu einfach. Die Welt, das Leben waren so unendlich kompliziert. Wie sollte es nach dem Tod anders sein? Sie war überzeugte Agnostikerin, seit sie denken konnte. Und daran konnten die Visionen und Begegnungen, die Gabe des Sehens, die sie seit dem Unfall plagte, nichts ändern.
Es gab viele Hellseher, die behaupteten, mit den Toten zu kommunizieren und die Geografie des Jenseits zu kennen. Einige waren recht überzeugend – Millionen Menschen kauften ihre Bücher und besuchten ihre Seminare, manche waren auf Jahre hin ausgebucht, weil trauernde Hinterbliebene noch eine offene Rechnung mit den Toten hatten. Eloise konnte nicht mit Sicherheit ausschließen, dass diese Leute das waren, wofür sie sich ausgaben. Vielleicht hielten sich manche Seelen tatsächlich in unserer Nähe auf, um sich zu verabschieden, sich zu entschuldigen, für Gerechtigkeit zu sorgen – alles Dinge, für die wir im Leben keine Zeit mehr hatten. Und die Hinterbliebenen können nicht loslassen, weil sie nicht mit dem Gedanken leben können, dass mit dem Tod alles vorbei ist. Dass es in manchen Fällen keine Vergebung, keine Klärung, keine Gerechtigkeit gibt. Das Ende kommt, und es wird einfach nur dunkel.
Eloise glaubte an Energien. Energie kann nicht ausgelöscht werden, sie kann höchstens ihre Form verändern. Das Leben als ultimative Energieform nimmt nach dem Tod des Körpers eine neue Gestalt an, geht in eine andere Dimension über. Eloise glaubte an ein unsichtbares Netz, das alle Wesen des Universums, lebendig oder tot, miteinander verband. Bei dem Unfall oder während ihres Komas war etwas mit ihr geschehen, oder vielleicht war es in dem Moment passiert, als sie dem Tod am nächsten gewesen war. Sie hatte sich biochemisch verwandelt und war zur Energieempfängerin geworden. Sie glaubte immer noch nicht an Gott oder an ein Leben nach dem Tod. Die Leute fanden das oft seltsam. Sie wandten sich an Eloise, um Trost zu finden,
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