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Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)

Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)

Titel: Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Unger
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weggelaufen.«
    »Nein«, ächzte Michael. Es klang traurig und ratlos, fast schon wie ein Schluchzen.
    Plötzlich fing er an zu keuchen, und Henry fürchtete schon, er könne einen Wutanfall haben. In dem Fall hätte er diesem Baum von einem Mann nichts entgegenzusetzen. Stattdessen ging Michael auf die Knie und fing an zu heulen, ein furchtbares Wehklagen, das Henry in den Ohren dröhnte. Bethany hielt sich die Ohren zu und fing ebenfalls zu weinen an. Michaels Geheul war wie ein ansteckender Urschrei, der von einem tief sitzenden Kummer zeugte. Henry wusste nichts anderes zu tun, als in die Hocke zu gehen und Marlas Sohn in die Arme zu nehmen. Selbst als ihm die Wahrheit dämmerte, ließ er Michael nicht los.
    Michael flüsterte:
    »All die Jahre habe ich geglaubt, mein Vater hätte es getan. Ich dachte, er würde sein schreckliches Geheimnis vor mir verbergen und ich würde ihn decken. Ich konnte es gar nicht erwarten, dass er stirbt und ich seine Lügen aufdecken kann.«
    Michaels Atem roch sauer, er stank nach Schweiß und fauligem Waldboden. Henry hielt ihn trotzdem fest umarmt, Marla zuliebe. Sie hätte sich gewünscht, dass er ihrem Sohn trotz allem half.
    »Michael«, sagte er. Eigentlich wollte er die Wahrheit nicht hören, denn sobald sie einmal ausgesprochen war, gäbe es kein Zurück mehr.
    »All die Jahre habe ich geglaubt, er hätte sich in diesem Haus im Müll vergraben, weil die Schuldgefühle ihn erdrücken. Dabei waren es keine Schuldgefühle, es war Trauer.«
    »Michael, bitte«, sagte Henry.
    Aber nun gab es kein Halten mehr.
    »Ich habe sie umgebracht«, stieß Michael hervor, und sein Schrei fuhr Henry bis in die Knochen. Bethany schluchzte. Sie hatte sich neben die Männer gekniet. »Als mein Vater nach Hause kam, habe ich ihm verraten, dass ein fremder Mann in unserem Haus war. Ich war wütend. Ich fühlte mich so … verraten. Und dann haben meine Eltern sich gestritten, heftiger als je zuvor.«
    Henry wünschte, Michael würde endlich aufhören. Er wollte nicht wissen, was Marla zugestoßen war.
    »Ich habe gehört, wie sie in ihrem Zimmer die Schubladen zugeknallt hat. Sie hat geschrien: ›Ich hasse dich! Ich hasse dieses Haus! Ich hasse mein Leben!‹ Ich konnte nicht zulassen, dass sie uns verlässt. Sie muss das geahnt haben.«
    Michaels Stimme wurde zu einem heiseren Krächzen.
    »Ich wollte sie aufhalten. Ihr Koffer öffnete sich. Sie ist vor mir weggelaufen, zur Hintertür hinaus in den Wald. Ich bin ihr gefolgt. Mein Vater hat versucht, mich aufzuhalten, erfolglos. Niemand hätte es geschafft, mich aufzuhalten.«
    Michael holte tief Luft. »Und all die Jahre hat er es für sich behalten. Er hat mich geschützt.«
    Er fing wieder an zu schluchzen. Er weinte wie ein Kind, ließ den Kopf hängen. Plötzlich tauchten am Ende des Wegs Lichter auf, und Stimmen waren zu hören. Eine Minute später waren sie umringt. Michael hob den Kopf, als sei er von dem Menschenauflauf überrascht.
    »Es ist endlich vorbei«, sagte er. Sein Blick war leer und verwirrt.
    Henry musste ihm zustimmen. Wahrscheinlich war Michael tatsächlich erleichtert. So schrecklich, so entsetzlich das Ende auch war – Michael hatte endlich seine Mutter wiedergefunden.

FÜNFUNDDREISSIG
    D ie Frau an der Rezeption hatte die vierzig längst überschritten. Sie trug eine Brille mit schwarzem Gestell und dicken Gläsern und hatte sich das dunkle Haar mit der dramatisch weißen Ponysträhne streng zurückfrisiert.
    Unter ihren Wangenknochen glänzten rötliche Aknenarben. Sie trug keinen Ehering, aber Kevin Carr sah sofort, dass sie die Hoffnung noch nicht aufgegeben hatte. Das war gut. Alle Frauen reagierten positiv, wenn ein gutaussehender Mann mit einem üppigen Rosenstrauß hereinkam.
    Er trug die kleine Reisetasche über der Schulter. Seine Anzugjacke hatte er während der Fahrt nicht getragen, damit sie wie frisch von der Reinigung aussah. Er trug eine hellrosa Krawatte und einen Hauch Aftershave. Er hatte seine Kleidung sorgfältig gewählt, um Eindruck zu schinden. Zum ersten Mal seit Paulas Verschwinden hatte er geduscht, sich rasiert und gekämmt. Er war weder zur Arbeit gegangen noch hatte er sich telefonisch entschuldigt. Seine Geschäftspartner mussten inzwischen panisch sein, immerhin betreute er den wichtigsten Kunden. Und der Kunde war ausgeflippt. Seit Tagen war Kevin nicht mehr erreichbar. Sollten sie ihn doch am Arsch lecken, alle miteinander. Er hatte gewartet, dass seine Schlampe von Ehefrau ihr

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