Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
noch einmal und strich es glatt.
Entfremdung stellt sich nicht urplötzlich ein. Sie zerschlägt keine Fensterscheiben, bedroht niemanden mit einer Waffe, entreißt niemandem seine Liebe. Nein, die Entfremdung schleicht durch die angelehnte Hintertür herein. Und im Schutz der Nacht stiehlt sie zunächst nur die kleinen Dinge, die man anfangs nicht vermisst – bis man eines Morgens aufwacht und alles verloren hat.
»Maggie.«
Sie lehnte sich zurück und warf ihm einen eindringlichen Blick zu.
»Hast du mir zugehört, Jones?«
»Ja.«
»Geh zu Dr. Dahl. Lass dir helfen. Tu es für uns.«
»Okay.«
Maggie stand auf und entfernte sich vom Tisch. Sie durchquerte die Küche und stieg langsam die Treppe hoch.
Er wusste, er sollte ihr folgen, und er wollte es auch. Er wusste, er könnte sie trösten, ihr helfen. Aber plötzlich überkam ihn die Trägheit, lähmte seine Glieder und machte ihm das Herz schwer. Er rappelte sich auf, schleppte sich an den Fuß der Treppe. Er konnte sehen, dass die Schlafzimmertür im Obergeschoss geschlossen war. Das Wasser lief.
Die Worte fühlten sich in seinem Mund so sperrig an. Er wusste nicht, wie er seinen Gefühlen Ausdruck verleihen sollte. Es war, als gäbe es keine Worte dafür, als beherrsche nur er die Sprache der Gefühle nicht. Er konnte sich nicht überwinden, die Treppe hochzusteigen; er wusste nicht, was er ihr sagen sollte, wenn er ihr gegenüberstand. Er hatte sich so oft entschuldigt, so viel versprochen. Was blieb noch zu sagen?
Plötzlich fiel ihm die Werkbank ein. Vor ein paar Jahren – es war Weihnachten gewesen, und sie hatten eben erfahren, dass seine Cholesterinwerte und sein Bluthochdruck besorgniserregend hoch waren – hatte Maggie in der Garage eine moderne Werkbank mit allen möglichen Werkzeugen aufstellen lassen, damit er wieder zum Tischlern käme. Früher hatte es ihm so viel Freude bereitet. Aber er rührte die Werkzeuge nicht an. Sie lagen herum und verstaubten.
Er lief durch den Flur in die Garage, drückte auf den Knopf neben der Tür, um das Garagentor zu öffnen, und schaltete das Licht ein. Das Tor öffnete sich ratternd, und kühle Abendluft strömte herein. Draußen blies ein kräftiger Wind, der das Laub durch die Einfahrt trieb.
Jones stellte sich an die Werkbank und betrachtete die kleinen Schubladen mit dem Nagel- und Schraubensortiment, den Hammer und die Schraubendreher, die schimmernd an der Wand hingen. Neben der Werkbank stand die Kreissäge, das Regal mit den unterschiedlichen Sägeblättern und der Schlagbohrmaschine. Die Ausrüstung reichte, um zu bauen, wonach ihm der Sinn stand. Aber Jones wusste nicht, was er bauen wollte. Immerhin betrachtete er sein Werkzeug zum ersten Mal ohne schlechtes Gewissen; anders als sonst starrte die Werkbank nicht vorwurfsvoll zurück.
Als er eine Hand auf die Arbeitsfläche legte, wurde die Garage von gleißendem Halogenlicht durchflutet. Ein Motor grummelte. Jones schirmte mit einer Hand seine Augen ab und trat hinaus. Ein riesiger, rostroter Geländewagen parkte neben Rickys Auto. Die Fahrertür ging auf, und Chuck Ferrigno kletterte heraus. Er sah ein wenig fülliger und erschöpfter aus als bei ihrer letzten Begegnung vor etwa einem Jahr.
»Ich weiß«, sagte Chuck, als er Jones entdeckte, »ich sehe fürchterlich aus.«
Jones hatte Chuck immer schon gemocht und war froh, dass sein Posten als Leiter der Kriminalpolizei von The Hollows seinerzeit an ihn gegangen war. Er hatte es verdient. Er war einer der letzten echten Cops, die nicht bloß deswegen in den Polizeidienst eingetreten waren, weil sie im Fernsehen so gerne Krimis schauten.
»Der Job lässt einen vorzeitig altern«, antwortete Jones, schüttelte Chucks Hand und klopfte ihm herzlich auf die Schulter.
»Du siehst gut aus, Jones. Ausgeschlafen. Das Rentnerleben bekommt dir anscheinend.«
Ich mache eine Gesprächstherapie. Meine Frau verabscheut mich. Und ich habe keinen blassen Schimmer, wie ich die mir verbliebene Lebenszeit rumkriegen soll. Oh, außerdem bin ich völlig fixiert auf das Thema Tod und wache jede Nacht schweißgebadet auf.
»Ich kann mich nicht beschweren«, sagte Jones. »Das Leben meint es gut mit mir.«
»Meine Frau will, dass ich in Rente gehe«, schnaubte Chuck verächtlich. »Ich habe ihr gesagt, ich würde drüber nachdenken, sobald sie im sechsstelligen Bereich verdient, so wie deine Maggie.«
Chuck rieb sich die Stirn, und Jones bemerkte, dass ihm inzwischen auch die letzten Haare ausgefallen
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