Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
waren. Chucks Stirnglatze schimmerte im Garagenlicht. Er hatte jetzt einen Haarkranz und sah wie ein Mönch aus. Eigentlich sollte sein Kollege sich die letzten Haare auch noch abrasieren und sich einen Kinnbart stehen lassen. Aber echte Männer tauschten keine Frisurentipps aus.
»Was führt dich her?«, fragte Jones.
»Ach«, sagte Chuck und blickte in den Himmel und dann in den Garten, als suche er etwas Bestimmtes, »ich will mich bloß unterhalten. Hast du Zeit?«
Kumpel, ich habe mehr Zeit, als mir lieb ist.
» Klar. Komm rein. Ich mache uns einen Kaffee.«
Jones schämte sich ein bisschen für die Aufregung, die er fühlte, als er Chuck ins Haus führte.
Er bekam keine Luft mehr, aber das war nicht schlimm. Es war sogar ganz angenehm. Er konnte ahnen, wie nah die Dunkelheit war. Eben noch hatte er am Ufer gestanden und das Tosen des Flusses im Kopf gehabt, und dann hatte er sie gesehen, eine Bohnenstange von einem Mädchen, das im Wasser trieb, allein die aufgewühlten Fluten sorgten dafür, dass sich die Glieder bewegten. Er zögerte keine Sekunde und handelte, ohne nachzudenken. Er spürte nichts als das eisige Wasser, das ihn plötzlich umschloss. Und dann stellte sich eine selige Stille ein, eine friedliche, allumfassende Ruhe. Fast gab er sich hin, aber da sah er sie vor sich in den Fluten treiben. Ihr Haar war wie ein Heiligenschein. Sie hatte die Arme ausgestreckt wie Flügel.
Komm, Kleines, ich bringe dich nach Hause.
Er hielt ihren dünnen Körper fest. Er konnte ihre Rippen fühlen, als er sie anhob und sie die Wasseroberfläche durchstießen, in der sich das milchig-weiße Licht spiegelte. Warum waren sie hier unten? Wie waren sie so tief gesunken?
Nicht aufgeben.
Plötzlich riss eine große Macht das Mädchen aus seinen Händen, und es stieg hinauf wie eine an Fäden gezogene Marionette. Er schaute ihr nach, und während sie verschwand, schrumpfte seine Entschlossenheit. Die Kälte war übermächtig. Und jetzt, da er niemanden mehr retten konnte, verblasste sein Wunsch, an die Wasseroberfläche zu gelangen. Seine Beine wurden schwer, seine Arme waren zu schwach zum Rudern. Er hörte einfach auf, sich zu bewegen, zu strampeln, zu kämpfen. Es war so einfach.
»Jones?«
Maggie, es tut mir so leid.
Und dann war er wieder zu Hause, er lag auf dem Sofa. Der Fernseher erfüllte das Wohnzimmer mit flackerndem Licht. Maggie saß neben ihm. Sie sah blass und zerbrechlich aus in ihrem weißen Nachthemd.
»Du hast geweint.« Ihr Stimme bebte, und sie hatte die Augen weit aufgerissen.
»Wirklich?« Jones setzte sich auf und wischte sich den feuchten Mund ab. Sich vor seiner eigenen Frau zu schämen, war ein völlig neues Gefühl. Es gefiel ihm nicht, dass sie so befangen miteinander umgingen. Seit wann war das so? Seit wann fiel es ihm auf?
»Ich dachte erst, da heult ein Tier«, sagte Maggie. »Vor Schmerzen. Vor schrecklichen Schmerzen.«
Das kommt der Wahrheit eigentlich sehr nah.
»Wovon hast du geträumt?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. Schon schwand der Traum aus seinem Bewusstsein.
»Ich weiß es nicht«, log er.
Er hatte Maggie nichts von Eloise Montgomerys Besuch erzählt, und auch nicht von ihrer düsteren Vorahnung. Offensichtlich verstörte das Ganze ihn mehr, als er es sich eingestehen wollte.
Maggie zog die Knie an die Brust. Er hatte beschlossen, auf dem Sofa zu schlafen und ihr das Bett zu überlassen. Das war immer noch besser, als mitten in der Nacht aufzuwachen und ihre Abwesenheit zu bemerken. Es war besser, als wach zu liegen und sich zu fragen, warum sie nicht mehr im Ehebett schlafen wollte.
Sie sah ihn schief an, und er merkte, dass er sich an den Blick gewöhnt hatte. Es war, als betrachte sie ihren Mann als kompliziertes Rätsel, das zu lösen sie sich nicht aufraffen konnte.
»Was wollte Chuck von dir?«, fragte sie. »Ich habe sein Auto in der Einfahrt gesehen.«
Jones setzte sich auf, knipste die Lampe neben dem Sofa an, griff zur Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus. Die Akten, die Chuck mitgebracht hatte, stapelten sich auf dem Tisch. Es fühlte sich an, als wäre er vor einer Woche hier gewesen, dabei war es erst wenige Stunden her.
»Kannst du dich an Marla Holt erinnern?«, fragte Jones.
Maggie legte den Kopf schief und sah zur Zimmerdecke hinauf. »Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor.«
»Du hast damals noch studiert.«
Maggie war gleich nach dem Schulabschluss nach New York City gezogen. Sie hatte an der New York University
Weitere Kostenlose Bücher