Gnade
hinausging, und bemerkte die Scheinwerfer eines Bootes, das sich ihrem Steg näherte. Sie konnte nicht sagen, wie viele Leute im Boot saßen, sie sah nur das Licht, das immer heller wurde.
Theo hatte seine Jeans und die Schuhe bereits an und zog sich nun, ein dunkles T-Shirt über den Kopf. Gleichzeitig versuchte er, aus dem Fenster zu schauen. Als er die Hand durch den kurzen Ärmel schob, pochte sein verletzter Arm heftig, und er spürte etwas Klebriges auf der Haut. Er berührte vorsichtig die schmerzende Stelle – und seine Fingerspitze ertastete eine gezackte Scherbe. Dann hatte er doch keine Schusswunde! Erleichtert wischte er die Hand an der Jeans ab und zog anschließend die Scherbe mit einem kräftigen Ruck heraus. Es brannte, als hätte ein glühendes Bügeleisen ihn berührt.
»Da kommt ein Boot auf den Steg zu«, berichtete Michelle. »Das sind bestimmt die Kumpane der beiden im Vorgarten, oder?« Sie kam sich bei dieser Frage selbst albern vor. »Was wollen die von uns?«, flüsterte sie.
»Das fragen wir sie später«, erwiderte Theo sarkastisch. »Wo ist bloß mein Handy?« Er befestigte das Holster an der Jeans, dann schob er den Revolver hinein und schloss die Klappe. Er hatte sich schon einen Fluchtweg überlegt. Sie mussten aus dem hinteren Fenster steigen, sich aufs Verandadach fallen lassen und dann die Beine in die Hand nehmen. Mit etwas Glück kamen sie bis zu seinem Wagen.
»Es liegt jedenfalls nicht auf der Kommode«, sagte sie.
»Ach Scheiße!«, entfuhr es ihm, weil ihm eingefallen war, wo er es hingelegt hatte. Es war an das Ladegerät auf Michelles Schreibtisch im Erdgeschoss angeschlossen. »Ich habe es unten neben deinem Telefon eingestöpselt.«
»Ich hole es.«
»Nein!«, sagte er scharf. »Die Treppe führt direkt auf die Hintertür zu, und wenn dort einer lauert, wird er dich sehen. Bleib neben dem Fenster stehen und versuche zu erkennen, wie viele aus dem Boot steigen. Hat es schon angedockt?«
Theo stieß die Tür zu, dann schob er die schwere Kommode davor, in der Hoffnung, die Angreifer damit aufhalten zu können.
»Ein Mann muss aus dem Boot gesprungen sein. Er hat eine Taschenlampe. Er kommt auf den Garten zu … jetzt geht er um das Haus herum. Ich kann nicht sehen, ob da noch einer ist.«
»Mach das Fenster auf«, forderte Theo sie auf. Er steckte seine Autoschlüssel in die Gesäßtasche. »Wir steigen hinunter. Ich gehe zuerst, dann kann ich dich auffangen.«
Er kletterte aus dem Fenster, schwang sich nach unten und versuchte, so leise wie möglich auf dem Verandadach zu landen. Die Schindeln waren glitschig vom Regen, und Theo hätte fast den Halt verloren. Mit gespreizten Beinen streckte er die Arme in die Höhe und wartete darauf, dass Michelle sprang. Die ganze Zeit über betete er, dass nicht gerade jetzt ein Blitz die Szene erhellte und sie verriet. Falls sich noch mehrere Männer im Garten oder im Boot befanden, würden sie sie sehen und auf der Stelle die anderen alarmieren.
Sie hörten, wie im Erdgeschoss Glas zersplitterte. Das Geräusch schien von der Hintertür zu kommen. Kurz darauf dröhnte eine Schusssalve durchs Haus, die offenbar von der Haustür aus abgefeuert wurde. Diese Verbrecher gingen nach Plan vor, sie stürmten gleichzeitig beide Eingänge. Offenbar wollten sie Theo und Michelle im Haus in die Zange nehmen.
Michelle saß noch auf dem Fenstersims. Sie vernahm, wie im Erdgeschoss Möbel umgeworfen wurden, und steckte die Taschenlampe in den Hosenbund.
»Lass dich jetzt runter!«, raunte Theo leise und eindringlich.
Sie zögerte noch eine Sekunde lang und versuchte sich zu sammeln, aber dann hörte sie schwere Schritte auf der Treppe und ließ los.
Theo fing sie auf. Michelle rutschte aus, aber er hielt sie fest, bis sie das Gleichgewicht zurückgewonnen hatte. Dicht nebeneinander robbten sie über das Dach. Mittlerweile regnete es in Strömen. Michelle konnte kaum etwas sehen. Sie erreichte den Rand und rüttelte an der Dachrinne, in der Hoffnung, sich daran festhalten zu können, wenn sie sich vom Dach hinunterließ. Aber die Rinne war lose, und wenn sie abbrach, würde das einen Höllenlärm verursachen. Auf dieser Seite des Hauses standen glücklicherweise dichte Fliederbüsche. Michelle hielt sich mit einer Hand die Augen zu und sprang beherzt mitten in die Sträucher.
Nachdem sie gelandet war, krabbelte sie hastig weiter, um Theo nicht im Weg zu sein, und stieß sich den Kopf an einem Ast. Quer über ihre Wange verlief eine
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