Gnade
jener heftige Schmerz erneut in seine rechte Seite fuhr. Er hatte sich zuerst im Bauch bemerkbar gemacht, war aber dann weitergewandert. Es tat höllisch weh! Der gezerrte Muskel fühlte sich an, als wäre er in Flammen aufgegangen.
Theo würde sich auf keinen Fall von einer albernen Football-Verletzung unterkriegen lassen. Während er sein Handy nahm und zusammen mit der Lesebrille in seine Brusttasche steckte, brummte er vor sich hin. Dann verließ er das Zimmer. Als er in die Lobby kam, hatte der Schmerz bereits nachgelassen, und Theo fühlte sich fast wieder wie ein Mensch. Das bestätigte nur seine Überzeugung: Ignoriere den Schmerz, dann vergeht er von selbst! Außerdem konnte ein Buchanan alles aushalten.
3
Es war ein Abend, an den man sich sein Leben lang erinnerte.
Michelle hatte noch nie an einem so extravaganten gesellschaftlichen Ereignis teilgenommen, und als sie auf den Stufen stand, von denen man den Festsaal des Hotels überblicken konnte, kam sie sich vor wie Alice, die durch den Spiegel ins Wunderland gefallen war.
Überall erblickte sie Blumen – wunderschöne Frühlingsblumen in kunstvollen Amphoren, die auf dem Marmorboden standen, und in Kristallvasen, die auf den mit edlem weißen Leinen gedeckten Tischen platziert waren. Genau in der Mitte des Saals – auf der Tafel unter dem prachtvollen Kristalllüster – waren mehrere in voller Blüte stehende Magnolien angeordnet. Ihr schwerer Duft schwängerte die Luft.
Kellner mit silbernen Tabletts, auf denen gefüllte Sektflöten standen, huschten durch die Menge, andere eilten von Tisch zu Tisch und zündeten die langen weißen Kerzen an.
Mary Ann Winters, Michelles Freundin seit Kindertagen, war an ihrer Seite und betrachtete die Szenerie ausgiebig.
»Das hier ist wirklich nicht meine Welt«, flüsterte Michelle. »Ich komme mir vor wie ein ungeschickter Teenager.«
»Aber du siehst nicht wie einer aus«, entgegnete Mary Ann, »Ich könnte genauso gut unsichtbar sein. Ich schwöre dir, alle Männer starren dich an.«
»Nein, sie starren auf mein obszön enges Kleid. Wie kann ein Kleid auf dem Bügel nur so schlicht und gewöhnlich aussehen, und dann …«
»An dir so verheerend sexy?«, ergänzte Mary Ann. »Es sitzt genau richtig. Finde dich endlich damit ab: Du hast eine tolle Figur!«
»Ich hätte niemals so viel Geld für ein Kleid ausgeben dürfen.«
»Um Himmels willen, Michelle, es ist von Armani! Und du hast es für ’nen Appel und ’n Ei bekommen, wenn ich dich daran erinnern darf.«
Michelle strich verlegen über den weichen Stoff. Sie dachte daran, was das Kleid sie gekostet hatte, und beschloss, es mindestens zwanzig Mal anzuziehen, damit sich die Anschaffung wenigstens einigermaßen lohnte. Sie fragte sich, wie das andere Frauen regelten. Wie rechtfertigten sie derart horrende Ausgaben und verdrängten ihre Schuldgefühle? Es gab so viele wichtige Dinge, für die sie das Geld hätte verwenden können. Und wann würde sie wohl jemals wieder eine Gelegenheit haben, dieses schöne Kleid zu tragen? Jedenfalls nicht in Bowen, dachte sie. Nicht in einer Million Jahren!
»Was habe ich mir nur dabei gedacht? Ich hätte mich nie von dir dazu überreden lassen dürfen, dieses Kleid zu kaufen.«
Mary Ann schob sich ungeduldig eine weißblonde Strähne über die Schulter. »Fang nicht schon wieder an, dich über den Preis zu beklagen! Du gibst doch sonst nie Geld für dich aus. Ich wette, das ist das erste wirklich schicke Kleid, das du besitzt, stimmt’s? Du siehst heute Abend einfach umwerfend aus. Versprich mir, dass du aufhörst, dir Gedanken zu machen, und dich amüsierst!«
Michelle nickte. »Du hast Recht. Ich bin schon still.«
»Gut. Komm, wir mischen uns unters Volk! Im Garten gibt es Horsd’œuvres und Champagner, und wir werden jeweils für mindestens tausend Dollar essen müssen. Ich habe gehört, so viel kostet eine Eintrittskarte.«
Ihre Freundin ging gerade vor ihr die Treppe hinunter, als Dr. Cooper Michelle entdeckte und ihr bedeutete, zu ihm herüberzukommen. Er war der Chefarzt des Brethren Hospitals, in dem sie letzten Monat gearbeitet hatte.
»Wir treffen uns draußen«, raunte Mary Ann ihr zu und verschwand in der Menge.
Cooper war für gewöhnlich ziemlich reserviert, aber der Champagner hatte ihn sichtlich lockerer gemacht, und er erwies sich an diesem Abend als richtig liebenswürdig, geradezu überschäumend. Er betonte mehrmals, wie glücklich er war, dass Michelle die Eintrittskarten, die er
Weitere Kostenlose Bücher