Gnade
ihr geschenkt hatte, nutzte, und machte ihr außerdem Komplimente über ihr Äußeres.
Während Dr. Cooper die Qualität der hiesigen Flusskrebse anpries, wich Michelle ein Stück zurück, um sich aus der Schusslinie zu bringen, denn ihr Gesprächspartner hatte eine ziemlich feuchte Aussprache. Ein paar Minuten später gesellten sich Coopers Frau und ein anderes älteres Ehepaar zu ihnen. Michelle nutzte die Gelegenheit, um sich rasch aus dem Staub zu machen.
Sie verspürte keinerlei Lust, während des ganzen Dinners neben den Coopers zu sitzen. Das Einzige, was schlimmer war als ein glücklicher Betrunkener, war ein glücklicher Betrunkener in Flirtlaune, und Cooper war auf dem besten Wege dahin. Da er und seine Frau in der Nähe der Tür zum Garten standen, würden sie Michelle erneut aufhalten, wenn sie an ihnen vorbeiging, deshalb schlenderte sie in den angrenzenden Korridor mit den Aufzügen und hoffte, dass man von der anderen Seite aus ebenfalls ins Freie gelangte.
Und dort fiel er ihr auf. Er stand vornübergebeugt an einer Säule, an der er sich mit einer Hand abstützte. Mit der anderen hielt er sich die Seite. Der Mann war groß und breitschultrig, kräftig gebaut wie ein Athlet. Sein Gesicht war unnatürlich blass, und als Michelle auf ihn zuging, zog er eine Grimasse und legte die Hand auf seinen Bauch.
Offensichtlich ging es ihm schlecht. Michelle berührte seinen Arm, um ihn auf sich aufmerksam zu machen. Gerade in dem Augenblick glitt die Aufzugtür auf. Der Mann richtete sich mühsam auf und schaute Michelle an. Seine grauen Augen waren glasig, und Michelle sah ihm an, dass er große Schmerzen hatte.
»Brauchen Sie Hilfe?«
Statt einer Antwort übergab er sich auf ihr Kleid.
Sie konnte nicht ausweichen, weil er ihren Arm festhielt. Dann knickten seine Knie ein, und Michelle wusste, dass er gleich zusammenbrechen würde. Sie schlang die Arme um seine Taille und versuchte, ihn langsam auf den Boden gleiten zu lassen, aber er taumelte im selben Augenblick nach vorn und riss sie mit sich.
Theo schwirrte der Kopf. Er war genau auf der Frau gelandet, er hörte sie ächzen und versuchte verzweifelt, genügend Kraft auf zubringen, um sich wieder aufzurichten. Er glaubte, sterben zu müssen, und fand, dass es gar nicht so schlecht wäre, wenn der Tod ihm endlich die furchtbaren Schmerzen nahm. Sie waren mittlerweile unerträglich. Sein Magen rebellierte erneut, und eine weitere Schmerzattacke durchbohrte ihn. Er fragte sich, ob es sich wohl so anfühlte, wenn jemand immer und immer wieder mit einem Messer auf einen einstach. Dann verlor er das Bewusstsein. Als er die Augen wieder öffnete, lag er flach auf dem Boden, und die Frau beugte sich über ihn.
Er versuchte, den Blick auf ihr Gesicht zu konzentrieren. Sie hatte hübsche blaue Augen – eigentlich eher violett als blau – und Sommersprossen auf der Nase. So plötzlich, wie der brennende Schmerz in der Seite aufgehört hatte, fing er wieder an – aber diesmal war er noch um vieles schlimmer als zuvor. »Verflucht noch mal!«
Die Frau sprach mit ihm, aber er verstand nicht, was sie sagte. Und was, zur Hölle, tat sie mit ihm? Raubte sie ihn aus? Ihre Hände waren überall, zerrten an seinem Jackett, an seiner Fliege, seinem Hemd. Sie bemühte sich, seine Beine gerade hinzulegen. Sie tat ihm weh, und jedes Mal, wenn er ihre Hände wegschieben wollte, betasteten sie ihn von neuem.
Theo glitt von der Bewusstlosigkeit in den Wachzustand und wieder zurück. Er spürte eine ruckhafte Bewegung und hörte dann eine Sirene dicht an seinem Kopf heulen. Die Blauäugige war immer noch da und nervte ihn allmählich. Sie stellte ihm Fragen, es ging um irgendwelche Allergien. Wollte sie ihm eine allergische Reaktion unterstellen?
Er fühlte, wie sie sein Jackett öffnete, und wusste, dass sie nun seine Waffe im Holster sehen konnte. Er war inzwischen halb verrückt vor Schmerzen und konnte nicht mehr klar denken. Er wusste nur, dass sie ihm die Waffe nicht wegnehmen durfte.
Sie war eine ganz schön redselige Räuberin, das musste er ihr lassen. Sie sah’ aus wie eines dieser J.-Crew-Models. Süß, fand er. Aber sie verhielt sich überhaupt nicht zuvorkommend, sie tat ihm immer noch weh.
»Hören Sie, Lady, Sie können meine Brieftasche haben, aber meinen Revolver bekommen Sie nicht, kapiert?«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Ihre Hand drückte auf seine Seite. Er reagierte instinktiv und schlug zu. Er glaubte, etwas
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