Gnade
aus.«
Michelle zupfte am Saum ihres T-Shirts. »Findest du nicht, dass das Top ein wenig knapp ist?«
»Warum habe ich wohl gesagt, dass du hübsch aussiehst?«
Sie ignorierte seinen Kommentar. »Jedes Mal, wenn ich es anziehe, laufe ich kurz darauf wieder zum Kleiderschrank und suche mir doch etwas anderes heraus. Es ist angeblich die neueste Mode«, erklärte sie zu ihrer Verteidigung. »Meine Freundin Mary Ann hat es mir geschenkt, und sie sagt, dass ich ruhig meinen Nabel zeigen soll.«
Theo zog sein ausgebleichtes blaues T-Shirt hoch, bis sein Nabel zu sehen war. »Wenn es Mode ist, mache ich mit.«
»Ich ziehe mich lieber um«, sagte sie und löste den Blick von seinem harten, flachen Bauch. Der Mann war wirklich ekelhaft fit – ein Wunder angesichts seiner grässlichen Ernährungsgewohnheiten.
»Mir gefällt dieses Outfit«, protestierte er.
»Trotzdem.« Sie schüttelte den Kopf. »Es ist schwierig zu erklären … Ich fühle mich in letzter Zeit nicht so recht wohl in meiner Haut.«
»Was soll das denn heißen?«
»Ich habe mir viele Jahre lang die größte Mühe gegeben, nicht wie eine Frau auszusehen.«
Er hielt das für einen Witz und brach in ausgelassenes Gelächter aus.
»Es ist wahr«, beteuerte sie. »Während des Studiums habe ich alles getan, um so unweiblich wie möglich auszusehen.«
Erstaunt fragte er: »Aber warum?«
»Unser Professor hatte extreme Vorurteile gegen weibliche Ärzte, und er hat uns das Leben zur Hölle gemacht. Er war ein richtig widerlicher Kerl! Er gab den Studentinnen zusätzliche Forschungsaufträge und halste ihnen jede Menge Arbeit auf. In derselben Zeit gingen er und seine Kollegen mit den Studenten aus und betranken sich. Wenn wir uns beschwert hätten, wäre alles nur noch schlimmer geworden. Die einzige Alternative bestand darin, das Handtuch zu werfen, und genau das wollte der Typ erreichen: dass die Mädchen das Medizinstudium aufgeben.« Sie lächelte unvermittelt. »Eines Abends, als einige Kommilitoninnen und ich uns mit Margaritas trösteten, sind wir der Sache auf den Grund gegangen.«
»Und was habt ihr herausgefunden?«
»Der Professor hatte einfach Angst vor uns. Aber vergiss nicht, wir waren vollkommen erschöpft und beschwipst.«
»Und seid ihr auch dahinter gekommen, warum er Angst vor euch hatte?«
»Er fürchtete unseren Verstand. Er kannte nämlich die Wahrheit.«
»Welche Wahrheit?«
»Frauen sind den Männern in vielem überlegen.« Michelle lachte und fügte hinzu: »Angst und Unsicherheit waren die Wurzeln seiner Vorurteile. Ich weiß noch, dass uns diese Erkenntnis geradezu beflügelte. Wir waren viel zu betrunken, um unsere Vermessenheit einzusehen. Jetzt weiß ich selbstverständlich, dass das alles Unsinn war. Wir waren nicht mehr oder weniger begabt als die männlichen Medizinstudenten, aber das Gefühl der Überlegenheit hat uns geholfen, diese harten Zeiten durchzustehen.«
»War deine Assistenzzeit auch so schlimm?«
»Nein, die verlief ganz anders. Dort wurden Frauen und Männer allesamt an sieben Tagen in der Woche zwanzig Stunden lang gleich schlecht behandelt. Es spielte überhaupt keine Rolle, dass ich eine Frau war. Ich hatte zu spuren und rannte die ganze Zeit über hin und her. Es war mörderisch!«, gestand sie. »Damals habe ich auch gelernt, im Stehen zu schlafen, und wenn es auch nur ein Viertelstündchen war. Und ich hatte das Glück, von einem begnadeten Chirurgen ausgebildet zu werden. Er war zwar ein Widerling«, sagte sie, »aber wir sind ganz gut miteinander ausgekommen. Ich trug in dieser Phase immerzu einen Kittel, ich habe gar nicht mitbekommen, was gerade modern war.«
»Mein Hausarzt ist übrigens eine Frau.«
»Ach, wirklich?«
»Ja, sie hat mir den Blinddarm rausgenommen.«
»Ich bin nicht deine Hausärztin! Wenn das der Fall wäre, würde ich dich sofort auf Diät setzen, von jetzt an nur noch fettreduzierte und salzarme Kost.«
»Habe ich schon gesagt, dass ich niemals die Anweisungen meiner Ärztin befolge? Und was die Kleidung betrifft, Michelle: Es ist ganz egal, was du anhast, die Männer starren dich ohnehin immer an. Ich hoffe nur, die Carson-Brüder ziehen dich nicht von ferne mit ihren Blicken aus, während ich mein Bestes versuche, sie zu terrorisieren.«
»Du hast vor, Terrormethoden anzuwenden? Cool!«
»Dachte ich mir doch, dass dir das gefällt.«
»Was meinst du mit ›von ferne‹? Darf ich denn nicht mit hineingehen?«
»Tut mir Leid, aber du wirst die Brüder nicht
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