Gnade
nickte bedächtig.
»Aber wenn es keine tödlichen Viren sind, dann legen sie ihren Weg im Organismus zurück und verschwinden wieder, richtig?«
»O ja, sie machen sich auf und davon – einfach so«, fauchte sie.
»Was ist denn plötzlich los mit dir?«, fragte Theo und sah Michelle stirnrunzelnd an.
»Ich spüre, dass ein Virus im Anzug ist.«
»Du hast doch gerade gesagt, dass du dich gut fühlst«, gab er zurück.
»Ich möchte nicht mehr darüber sprechen. Krankheiten deprimieren mich.«
»Michelle?«
»Ja?«
»Du bist Ärztin. Vielleicht liege ich ja falsch, aber behandelst du nicht den lieben langen Tag kranke Menschen?«
Plötzlich wurde Michelle bewusst, wie kindisch sie sich benahm, und sie versuchte, eine Entschuldigung für ihre Verstimmung zu finden. »Ich bin ein Morgenmuffel.«
»Führst du nicht die meisten Operationen am frühen Morgen durch?«
»Doch, aber die Patienten sind dann schon ohne Bewusstsein. Ihnen ist es egal, ob ich gut gelaunt bin oder nicht. Hast du eigentlich gut geschlafen?«, erkundigte sie sich in der Absicht, das Thema zu wechseln.
»Ja, und du?«
»Ich auch. Es war schön, einmal nicht vom schrillen Läuten des Telefons geweckt zu werden. Hast du schon etwas von deinem Freund Noah gehört?«
»Nein.«
»Er kommt doch sicher hier vorbei und holt sich den Schlüssel für die Praxis, oder?«
»Nein, Noah braucht keinen Schlüssel.«
»Wie kommt er dann rein?«
»Er bricht die Tür auf. Aber keine Angst – er wird nichts kaputtmachen. Er rühmt sich ständig, jedes Schloss schnell, leise und ohne Schäden öffnen zu können.«
»Hast du einen Treffpunkt mit ihm ausgemacht?«
»Nein«, sagte Theo. »Aber da bin ich völlig unbesorgt. Noah wird mich schon finden. Was steht denn heute auf deinem Stundenplan?«
»Da ich ja die Praxis noch nicht aufräumen muss, habe ich heute einen freien Tag. Ich muss mich nur mit Dr. Robinson in Verbindung setzen und mir die Informationen über seine schwierigen Patienten beschaffen«, sagte sie. »Und dann muss ich dich um drei Uhr zum Footballtraining bringen. Du hast Mr. Freeland ja fest versprochen zu kommen, und da ich die Mannschaftsärztin bin, muss ich ebenfalls erscheinen.«
»Die Jungs brauchen einen Arzt während des Trainings?«, fragte Theo grinsend.
»O ja!«, entgegnete sie. »Sie verletzen sich oft gegenseitig, stoßen mit den Köpfen und anderen Körperteilen zusammen, auch wenn sie Helme und gut gepolsterte Kleidung tragen. Letzte Woche hatte ich eine ausgekugelte Schulter zu behandeln und vor zwei Tagen ein verstauchtes Knie. Die Jungs sind wirklich furchtbar anstrengend, aber verrate niemandem, dass ich das gesagt habe! Apropos Mr. Freeland«, fuhr sie fort, »er hat eine Zahl auf den Zettel geschrieben, den er dir in die Hand gedrückt hat. Hat sie dich gebührend beeindruckt?«
»Nein, ich kann wirklich nicht behaupten, dass sie mich beeindruckt hat.«
»Belustigt?«
Er nickte. »Ich verdiene in einem Monat mehr, als er mir fürs ganze Jahr geboten hat.«
»Wir leben nun mal nicht in einer reichen Gegend.«
»Ich verstehe.«
»Und er nimmt wahrscheinlich an, dass du als Anwalt noch etwas dazuverdienst.«
»Aha.«
»Ziehst du eigentlich deinen Anzug an, bevor wir zur Mühle fahren?«
»Sollte ich? Was ist falsch an diesen Klamotten?«
»An einer Jeans? Das ist ja wohl kaum der angemessene Aufzug, um jemanden einzuschüchtern, oder?«
»Auf die Kleidung kommt es dabei nicht an, sondern auf das Auftreten. Wann können wir aufbrechen?«
»Gib mir zehn Minuten!«
Michelle stellte das Geschirr in die Spüle und lief eilig hinauf, um ihr T-Shirt zu wechseln. Währenddessen holte Theo seine Unterlagen aus der Bibliothek.
Als er das Auto rückwärts aus der Einfahrt fuhr, sagte er: »Als Erstes halten wir bei Second and Victor. Ich weiß, dass dieser Laden in St. Claire ist, aber du musst mir sagen, wie ich hinkomme.«
»Das ist nicht schwer zu finden, er liegt direkt hinter McDonald’s.«
»Gut, dann kann ich mir gleich ein paar Pommes holen, damit ich die Zeit bis zum Mittagessen überstehe.«
»Dein Blut muss so dick wie Sirup sein.«
»Nein, keineswegs. Ich habe einen niedrigen Cholesterinspiegel und dafür eine Menge von dem guten Zeug im Blut.«
In St. Claire angekommen, dirigierte Michelle Theo durch die Straßen.
»Hier links«, sagte sie. »Warum fahren wir eigentlich zu Second and Victor?«
»Um einen Zaun abzuholen. Ah, da ist es ja.« Theo rollte auf den Parkplatz neben dem
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