Gnade
Geschäft und hielt an, ließ aber den Motor laufen. »Ich habe die Bestellung schon telefonisch aufgegeben, es dauert also nicht lange. Ich muss nur schnell bezahlen.« Er stieg aus und schlug die Tür zu.
Michelle wartete bei laufender Klimaanlage. Draußen war es heiß und schwül, und laut Wetterbericht würde es am Nachmittag mit achtzigprozentiger Wahrscheinlichkeit ein Gewitter geben. Sie fasste ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und hielt ihn hoch. Mit der Hand fächelte sie sich Luft zu. Sie hatte sich noch nicht wieder an die Luftfeuchtigkeit in Bowen gewöhnt, genauso wenig wie an die gemächliche Lebensart. Sie war daran gewöhnt, alles im Eilschritt zu erledigen, und jetzt musste sie lernen, die Dinge wieder etwas langsamer anzugehen.
Theo brauchte zehn Minuten, um den Kauf zu tätigen. Michelle konnte ihre Neugier kaum bremsen. Warum um Himmels willen kaufte er einen Zaun? Sie nahm sich jedoch vor, ihn nicht sofort mit Fragen zu löchern. Wenn er sie einweihen wollte, würde er es ihr schon erzählen. Sie hielt ihre Neugier zurück, bis Theo vor der Bank von St. Claire parkte, die nur drei Blocks von Second and Victor entfernt war.
»Du hast einen Zaun gekauft?«
»Hmm.«
»Was für einen denn?«
Er sah die Papiere durch, die er auf die Ablage zwischen den Sitzen gelegt hatte. »Einen schmiedeeisernen«, sagte er. Er nahm zwei amtlich aussehende Dokumente an sich, stieg aus und ging um den Wagen herum, um Michelle die Tür zu öffnen.
»Der war bestimmt ziemlich teuer.«
»Er ist seinen Preis wert.«
»Wofür hast du ihn denn gekauft?«
»Nenn es einen Trostpreis«, erwiderte er, »weil ich kein großes Gewehr habe.«
Theo war klar, dass Michelle nicht verstand, wovon er sprach, denn sie war nicht dabei gewesen, als der kleine John Patrick ihm am Tag zuvor von seinem Geburtstagswunsch erzählt hatte.
»In Boston kann man bestimmt auch Zäune kaufen.«
»Das stimmt.«
Plötzlich dämmerte es ihr. »Hat dieser Zaun irgendetwas mit Lois zu tun?«
»Lois?«
Sie gab auf. »Du willst es mir also nicht sagen?«
»Ganz recht. Ich gehöre zu den verschlossenen, schweigsamen Menschen.«
»Ich hasse die verschlossenen, schweigsamen Menschen! Sie erleiden alle über kurz oder lang einen Herzanfall.«
Er öffnete die Tür. »Denkst du eigentlich jemals an etwas anderes als an Medizin?«
Wenn er wüsste! Seit Michelle Theo kennen gelernt hatte, schien sie an nichts anderes mehr zu denken als daran, mit ihm ins Bett zu steigen. Aber das würde sie natürlich niemals zugeben. »Klar!«, sagte sie. »Möchtest du wissen, was ich gerade im Moment denke?«
»Hast du etwa wieder eine deiner wunderlichen Launen?«
Sie lachte. »Habe ich Launen?«
Theo ging auf den Wachmann der Bank zu und trat beiseite, um Michelle den Vortritt zu lassen. Er wusste, dass sein Revolver, der in einem Knöchelgurt steckte, auf der Stelle das Alarmsystem in Gang setzen würde. Deshalb zeigte Theo dem älteren Mann seine Karte, die ihn als Mitglied der Regierung auswies, und wartete, bis er den Türknopf betätigte und das Sicherheitssystem für einen Moment ausschaltete.
Der Wachmann winkte Theo durch. »Wie kann ich Ihnen helfen, Officer?«
Theo klärte seine falsche Schlussfolgerung nicht auf. »Ich habe eine Verabredung mit dem Bankdirektor. Können Sie mir sagen, wo ich sein Büro finde?«
Der Türsteher nickte eifrig. »Natürlich kann ich das. Es liegt gleich dort auf der anderen Seite der Glaswand.«
»Danke.«
Theo holte Michelle ein, deutete auf einen Stuhl in der Halle und sagte: »Vielleicht solltest du besser hier warten. Es könnte sein, dass ich da drinnen ein schmutziges Wort von mir gebe.«
»Was für ein Wort denn?«
Er neigte sich nah zu ihrem Ohr und wisperte: »Buchprüfung.«
»Entschuldigen Sie, Ma’am. Sind Sie nicht Big Daddy Jakes Tochter?« Der Wachmann eilte auf Michelle zu.
»Viel Glück!«, flüsterte sie Theo zu. Dann wandte sie sich an den älteren Mann: »Ja, die bin ich.«
»Sie sind doch Ärztin, nicht wahr?«
Er stellte sich vor und gab ihr die Hand. »Ich habe gehört, was in Ihrer Praxis passiert ist. Meine Frau Alice und ich finden es toll, dass sich nun Jakes Mädchen um uns kümmert. Wir brauchen nämlich beide einen guten Arzt. Alice hat Probleme mit entzündeten Fußballen und Hühneraugen. Sie kann ihre guten Schuhe schon gar nicht mehr anziehen, weil sie darin solche Schmerzen hat. Und ich muss dringend etwas gegen meine Schleimbeutelentzündung tun. An
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