Gnadenfrist
einsteigen. Dann fuhr der Bus ab. Vorsichtig stieg er aus und sah sich um. Keine näherkommenden Scheinwerfer. Mit ein paar raschen Schritten war er neben dem Pontiac. Schon beim zweiten Schlüssel, den er probierte, öffnete sich die Tür. Er saß im Wagen. Er war noch angenehm warm. Derselbe Schlüssel, mit dem er die Tür aufgeschlossen hatte, paßte auch in das Zündschloß. Fast geräuschvoll sprang der Motor an. Der Tank war dreiviertel voll.
Alles bestens.
Nun mußte er einige Zeit warten. Der Parkwächter würde Verdacht schöpfen, wenn er auf diesem Platz ein Ticket einlöste, das nicht wenigstens ein paar Stunden alt war. Aber er hatte Zeit genug, und er wollte sowieso nachdenken. Er lehnte sich zurück, schloß die Augen, und Ninas Bild zog an ihm vorbei, so, wie sie damals, in jener ersten Nacht, ausgesehen hatte.
Er war in der Gegend umhergefahren, obwohl er genau wußte, daß es vernünftiger gewesen wäre, zu Hause zu bleiben; es war noch zu früh nach Jean Carfolli und Mrs. Weiss. Aber es hatte ihn nicht zu Hause gehalten. Und dann hatte er sie gesehen. Auf der Fernstraße 7, an jener ruhigen, einsamen Stelle, fuhr der Karmann Ghia an den Straßenrand. Seine Scheinwerfer erfaßten den schlanken, zierlichen Körper, das dunkle Haar, die kleinen Hände, die sich mit dem Wagenheber abmühten, die großen braunen Augen; die einen ängstlichen Ausdruck bekamen, als er bremste und anhielt. Vermutlich ging ihr all das Gerede über den Highway-Mörder durch den Kopf.
»Kann ich Ihnen behilflich sein, Miß? Für Sie ist das Schwerarbeit, ich mache das jeden Tag. Ich bin Mechaniker von Beruf.«
Der ängstliche Blick verschwand. »O großartig«, sagte sie. »Ehrlich gesagt, ich bin schon etwas nervös. Ausgerechnet hier eine Reifenpanne zu haben…«
Er streifte sie mit keinem Blick, sondern konzentrierte sich nur auf den Reifen, als wäre sie überhaupt nicht vorhanden oder neunhundert Jahre alt. »Sie sind über eine Glasscherbe gefahren. Nicht so schlimm.« Rasch und mühelos wechselte er den Reifen aus. Er brauchte keine drei Minuten. Weder aus der einen noch aus der anderen Richtung näherte sich ein Auto. Er stand auf.
»Was schulde ich Ihnen?« Sie öffnete ihre Tasche, bog den Nacken. Unter ihrem Wildledermantel hoben und senkten sich ihre Brüste. Sie besaß Klasse, das merkte man irgendwie. Sie war kein verängstigtes Hühnchen wie Jean Carfolli oder eine fauchende alte Vettel wie die Weiss - nur eine schöne junge Frau, die ihm dankbar war. Er streckte die Hand aus, um ihre Brust zu berühren.
Der Baum auf der anderen Straßenseite wurde plötzlich hell. Das Licht glitt weiter und erfaßte sie beide. Ein Streifenwagen. Er erkannte die Kuppel des Blaulichts. »Drei Dollar für einmal Reifenwechseln«, sagte er munter, »und wenn Sie wollen, kann ich Ihnen den Reifen flicken.« Er steckte die Hand in die Tasche. »Mein Name ist Arty Taggert. Ich habe eine Reparaturwerkstatt in Carley an der Monroe Street, ungefähr eine halbe Meile von der Alten Mühle entfernt.«
Der Streifenwagen fuhr auf sie zu und hielt an. Der Polizist stieg aus. »Alles in Ordnung?«
Der Blick, mit dem er Arty musterte, war sehr merkwürdig, sehr mißtrauisch.
»O ja, Wachtmeister. Ich hatte großes Glück. Mr. Taggert wohnt in derselben Stadt wie ich, und er kam gerade vorbei, als ich die Panne hatte.«
Sie tat, als würde sie ihn kennen. Das Verhalten des Polizisten änderte sich schlagartig. »Da hatten Sie wirklich Glück, daß Ihnen ein Freund geholfen hat. Es ist heutzutage gefährlich, wenn Frauen allein unterwegs eine Panne haben.«
Der Polizist stieg wieder in den Streifenwagen, blieb jedoch an Ort und Stelle, um sie zu beobachten. »Wollen Sie den Reifen für mich reparieren?« fragte sie. »Ich heiße Nina Peterson. Wir wohnen in der Driftwood Lane.«
»Sicher, mach’ ich gern.« Gleichgültig und lässig, als sei dies nichts weiter als eine billige Reparatur, setzte er sich in seinen Wagen. Nichts an ihm verriet, daß er sie Wiedersehen mußte. Und sie hatte ihn angesehen, als ob auch sie das Auftauchen des Polizisten bedauerte.
Zunächst mußte er jedoch zusehen, daß er schleunigst verschwand; sonst fing der Polyp vielleicht noch an, über Jean Carfolli und Mrs. Weiss nachzudenken und Fragen zu stellen wie »Halten Sie öfters an, um Damen zu helfen, die allein unterwegs sind, Mister?«
Er war nach Hause gefahren, und gerade, als er am nächsten Morgen daran dachte, sie anzurufen, klingelte das
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