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Gnadenfrist

Titel: Gnadenfrist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lindsey Davis
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mal in einen Fall zu verrennen, bevor sie wie von Flöhen gepiesackte Kaninchen wieder losrennen? Früher konnte man wenigstens damit rechnen, am ersten Fall völlig zu verzweifeln, bevor irgendein Trottel einem den nächsten an den Kopf warf …«
    Er machte sich nur Luft. Ich verstand, warum.
    Scythax saß im Vernehmungszimmer. Der arme Mann stand so unter Schock, daß er wie betrunken wirkte. Alle paar Minuten kam er heraus, murmelte Unzusammenhängendes oder stellte die gleichen Fragen wie schon dreimal zuvor. »Was wollen sie damit erreichen? Warum mußten sie ihn foltern? Warum, warum?«
    »Aus Rache, Scythax. Porcius, mach dich nützlich. Geh rein und bleib bei ihm.«
    »Sprich mit ihm«, riet Fusculus mit leiser Stimme. »Und wenn er über seinen Bruder reden will, nick einfach und hör ihm zu.«
    Nachdem der nervöse Rekrut gehorsam den gramgebeugten Mann wieder ins Nebenzimmer geführt hatte, bedeckte Petro kurz das Gesicht mit den Händen. »Ich kann ihn nicht nach Hause schicken. Oh, Götter des Olymp, Falco! Was für ein Schlamassel. Er hat mit seinem Bruder zusammengewohnt. Er wird verrückt, wenn er in das Haus kommt. Außerdem könnten diese Schweine auch Scythax auflauern.«
    »Die Patrouille konnte ihn nicht zurückhalten«, erklärte mir Fusculus. »Die Tür stand einen Spalt offen. Als Scythax sah, was los war, schoß er wie der Blitz hinein, brüllte und war bald selbst blutbedeckt. Sie konnten ihn kaum von Alexander losreißen und hierherschaffen. Er versucht immer wieder, in die Praxis zurückzulaufen.«
    Alle waren bleich. Es gab genug zu tun, aber sie saßen völlig starr im Wachlokal, hilflos. Gewalt sahen sie täglich; gräßlich zugerichtete Todesopfer viel zu oft. Doch das hier war zu nahe gewesen. Es betraf einen der ihren. Das hier – obwohl niemand es bisher angesprochen hatte – war durch ihre eigene Arbeit verursacht worden. Es bestand die vage Möglichkeit, daß Alexander von einem wahnsinnigen Patienten angegriffen worden war, doch im stillen waren wir alle überzeugt, daß sein Tod mit seiner falschen Diagnose für Nonnius Albius zusammenhing.
    Wir verbrachten den Tag damit, zu begreifen, was geschehen war. Zuerst sagten wir, es hätte keinen Zweck, sich die Praxis anzusehen – zumindest müßten wir nicht alle hingehen. Wir gingen alle. Es schien eine Geste des Respekts und der Achtung zu sein. Wir mußten uns zwingen, das anzusehen, was der Mann erlitten hatte. Petronius legte es sich als verdiente Strafe auf. Einige der anderen wollten so einen Teil ihrer Schuld abtragen. Ich ging mit, weil ich aus Erfahrung wußte, daß wenn man es nicht tut, man nie aufhört, sich zu fragen, ob man Hinweise gefunden hätte, wenn man dagewesen wäre. Und Hinweise brauchten wir dringend. Die Mannschaft war so erschüttert, daß Spuren leicht übersehen oder falsch interpretiert werden konnten.
    Der junge Porcius war der einzige, der sich übergeben mußte. Der Anblick des Tatorts brachte ihn völlig aus der Fassung; es blieb uns nichts anderes übrig, als ihn wieder zu Scythax ins Wachlokal zu schicken. Am Ende des Tages war der Junge ein zittriges Wrack, aber wir waren zu sehr mit anderem beschäftigt. Er hatte zwar unser Mitgefühl, doch keiner konnte sich um ihn kümmern.
    »Dem Chef hat es das Herz gebrochen«, murmelte Martinus. Selbst er hatte seine Großspurigkeit verloren.
    »So niedergeschlagen hab ich ihn noch nie gesehen«, stimmte Fusculus trübselig zu.
    Ich war Petros Freund. Alle schienen mir von seinem bedrückten Zustand erzählen zu wollen. Es war kaum zu ertragen. Ich brauchte niemanden, der es mir unter die Nase rieb. Er war in üblerer Laune, als ich ihn je erlebt hatte – außer ein einziges Mal, während des Boudicca-Aufstandes in Britannien. Jetzt war er älter. Er kannte viel mehr Schimpfworte und schmerzhafte Möglichkeiten, seine Wut an allen auszulassen, die ihm zu nahe kamen.
    Ich hätte ihn auf einen Becher Wein in die nächste Schenke gezerrt, aber in seiner momentanen Verfassung hätte er den Wein nur runtergeschüttet, bis er umfiel oder sich selbst umbrachte.
    Am Nachmittag waren wir von den Vernehmungen völlig erschöpft. Einige unschuldige Familienväter waren ins Büro des Präfekten gestürmt, um sich zu beschweren, weil sie herumgeschubst und angebrüllt worden waren. Niemand hatte etwas Verdächtiges gehört oder gesehen, weder abends noch tagsüber. Niemand wußte irgendwas. Niemand wollte etwas wissen. Alle ahnten, daß hier brutale Gangster am

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