Gnadenfrist
Werk gewesen waren. Alle waren starr vor Angst.
Wir waren überzeugt davon, daß Alexander und Nonnius von den gleichen Leuten ermordet worden waren. Selbst diese einfache Tatsache war schwer zu beweisen. Alles sprach dagegen. Das eine Opfer war entführt, das andere zu Hause umgebracht worden. Der eine war ein stadtbekannter Denunziant, der andere diskret und verschwiegen. Zwei völlig unterschiedliche Methoden waren angewandt worden. Die Botschaft schien diesmal längst nicht so schrill. Außer der Tatsache, daß beide Morde bei Nacht geschehen waren – wie die meisten Verbrechen in Rom –, hatten sie nur die Gewalt gemeinsam. Instinkt und Erfahrung sagten uns jedoch, daß es richtig war, die beiden Morde miteinander in Verbindung zu bringen. Aber es ergab alles einen Sinn, wenn man davon ausging, daß Nonnius als Racheakt für seinen Betrug an Balbinus ermordet worden war und Alexander hatte sterben müssen, weil jemand herausgefunden hatte, daß Nonnius nur wegen der ärztlichen Diagnose »übergelaufen« war.
Als wir die Ermittlungen für den heutigen Tag beendeten, öffneten bereits die Thermen. Der Geruch von Holzrauch in der feuchten Oktoberluft hatte etwas herbstlich Trübsinniges und verstärkte unsere melancholische Stimmung. Wir waren nicht weitergekommen. Die kommende Nacht würden wir damit verbringen, auf weitere Todesfälle zu warten. Uns ging allmählich die Luft aus. Die Verbrecher hatten eindeutig die besseren Karten.
Mit grimmigem Gesicht ordnete Petronius den Abtransport der Leiche an – diesmal zu einem Leichenbestatter, nicht ins Wachlokal, wo man sich immer noch um den vor Schmerz halb wahnsinnigen Bruder des Toten kümmerte. Dann sorgte er dafür, daß ein paar Männer der Patrouille die Praxis säuberten und aufräumten. Fusculus bot an, das zu überwachen. Er schien nicht zu wissen, was er sonst mit sich anfangen sollte. Petro dankte ihm und schickte den Rest nach Hause.
Ich begleitete Petronius auf dem Heimweg. Unterwegs sagte er fast nichts. Ich brachte ihn bis zu seiner Haustür. Seine Frau machte auf. Sie warf einen Blick auf sein verzerrtes Gesicht, dann ruckte ihr Kinn hoch, aber sie enthielt sich jeden Kommentars. Vielleicht wollte sie mir auch nur verstohlen zunicken. Arria Silvia schimpfte gern und mit Inbrunst, aber sobald sie sah, daß Petro völlig fertig war, nahm sie ihn schützend unter ihre Fittiche. So auch jetzt; ich wurde nicht mehr gebraucht. Als sich die Tür schloß und ich allein auf der Straße stand, fühlte ich mich einen Moment lang ganz verloren.
Es war ein schrecklicher Tag gewesen. Ich hatte Roms Bauch gesehen, den verfilzten Dreck unter dem Fell des raubgierigen Wolfes gerochen. Das war nichts Neues, aber es zwang mich, dem Mangel an Hoffnung ins Auge zu sehen, der mit Verbrechen einhergeht. Das war das wahre Gesicht von Cäsars Marmorstadt: Keine korinthischen Acantusblätter und perfekt vergoldete Inschriften, sondern ein stiller Mann, den man an seinem Arbeitsplatz, in seinem Heim, das er mit seinem Bruder teilte, grausam ermordet hatte; brutale Rache an einem ehemaligen Sklaven, der einen angesehenen Beruf erlernt und mit einem einzigen Unterstützungsakt für das Gesetz Freiheit und Aufnahme in den Bürgerstand zurückgezahlt hatte. Kein noch so aufwendiges Prunkbauprogramm würde je die rohe Gewalt vertreiben, die den größten Teil der Menschheit lenkt. Das war die wahre Stadt: Gier, Korruption und Gewalt.
Es war dämmrig, als ich zur Brunnenpromenade zurückkehrte. Das Herz war mir schwer. Und für mich war der Tag noch längst nicht zu Ende. Ich mußte immer noch ein Lächeln aufsetzen und mich in eine Toga werfen – und dann zum Essen zur Familie meiner Freundin gehen.
XLIII
Sobald wir am Pförtner vorbei waren, der mich stets als hausierenden Lupinenverkäufer und potentiellen Dieb des Tafelsilbers betrachtet hatte, wurde es ein unvergeßliches Ereignis. Die Gastgeber waren so rücksichtsvoll, daß die Gäste keine Hemmungen hatten, sich schlecht zu benehmen. Helenas Geburtstag, während des Konsulats von wem auch immer, legte den Grundstein für viele glückliche Jahre heftigen Familiengezänks. Nur daß dieses eine Mal meine Familie nichts damit zu tun hatte.
Als einfacher Privatbürger waren meine Manieren die besten, die an diesem Abend zur Schau gestellt wurden. Als ich Helena aus dem von mir widerstrebend gemieteten Tragestuhl hineinbegleitet hatte, drehte ich mich um und sah, daß ihre Mutter direkt hinter mir stand, bereit, mich
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