Gnadenfrist
beiseite zu schubsen, um das Geburtstagskind zu umarmen. Ich küßte die Wange der Matrone (glatt, geölt und parfümiert) mit ernster Förmlichkeit. Sie war eine großgewachsene Frau und hatte mit meinem Angriff nicht gerechnet, also verlangte dieses Manöver einige Geschicklichkeit. Sie war noch überraschter als ich.
»Grüße und Dank, Julia Justa. Heute vor fünfundzwanzig Jahren haben Sie der Welt eine große Kostbarkeit geschenkt!« Ich mochte zwar nicht der ideale Schwiegersohn sein, aber ich wußte, wie man ein hübsches Specksteindöschen in die ausgestreckte Hand einer Dame drückt.
»Vielen Dank, Marcus Didius. Das hast du aber hübsch gesagt.« Julia Justa war eine sehr damenhafte Heuchlerin. Dann erstarrte ihr Gesicht. »Warum«, fragte Helenas Mutter eisig, »trägt meine Tochter ein Kind auf dem Arm?« Helena hatte das Müllbaby mitgebracht.
»Oh, das hat Marcus auf seinem Müllkarren gefunden!« rief Helena munter. »Aber ich trage noch ein Kind, von dem du sicher hören möchtest.«
Das war keinesfalls der Takt und Anstand, der mir vorgeschwebt hatte. Andererseits konnte mir niemand die Schuld dafür in die Schuhe schieben.
Ich hatte mit der Vierten Kohorte gewettet, daß am Ende des Abends die Frauen in Tränen aufgelöst sein würden und die Männer ein paar Zähne verloren hätten. (Oder umgekehrt.) Noch bevor wir die Schwelle überschritten hatten, gab es schon Positionsgerangel im weiblichen Sektor. Helenas Mutter trug blattgrüne Seide und eine bestickte Stola; Helena trug nicht nur Seide, sondern ein phantastisches Gewand aus Palmyra mit eingewebten Mustern in Purpur, Braun, Dunkelrot und Weiß. Helenas Mutter hatte eine teure goldene Schmuckgarnitur angelegt, verziert mit Schnörkeln und Tropfen und einer Reihe farblich passender Smaragde. Helena einen Arm voller Reifen und eine Kette aus riesigen indischen Perlen. Helenas Mutter hatte ein edles Zimtparfum aufgetragen, eines, das auch Helena oft benutzte; Helena hatte sich für den heutigen Abend mit ein paar kräftigen Tropfen einer kostbaren Essenz betupft, die Weihrauch enthielt. Außerdem zeigte sie das anmutige Verhalten einer Tochter, die gewonnen hat.
Wir Männer waren in Weiß. Wir begannen in Togen, die wir aber bald ablegten. Helenas Vater trug seine stolze, mit leichter Vorsicht gemischte Miene zur Schau. Ihr Bruder Aelianus tat sich mit einer finsteren Miene und einem spanischen Gürtel hervor. Ich war so herausgeputzt worden, daß ich mich wie die ganze Schuhmachergilde auf ihrem Innungsfest fühlte.
Justinus glänzte durch Abwesenheit. Jeder wußte, daß er wahrscheinlich beim Pompejustheater rumhing. »Er wird es bestimmt nicht vergessen«, versicherte seine Mutter, als sie uns hineinführte. Vielleicht doch. (Die Schauspielerin war vielleicht außergewöhnlich hübsch und würde womöglich ausgerechnet an diesem Abend Notiz von ihm nehmen.) Helena und ich schluckten, dann beteten wir für ihn.
Während die Frauen davoneilten, um dringende Neuigkeiten auszutauschen, bat mich der Senator zu einem Becher Wein vor dem Essen (mit Honig versetzter Mulsum, absolut traditionell: verklebt einem den Magen, macht aber nicht besoffen). Camillus Verus war scharfsinnig und intelligent, dabei zurückhaltend. Er tat, was nötig war, und verschwendete keine Energie auf den Rest. Ich mochte ihn. Daß er es fertigbrachte, mich zu tolerieren, war mir wichtig.
Zumindest wußte er, wie stark meine Gefühle für Helena waren.
Aus meiner Perspektive betrachtet, gehörte die Familie Camillus einwandfrei zu den Patriziern, obwohl sie unter ihren Vorfahren weder einen Konsul noch einen General aufweisen konnte. Sie war reich – wobei es sich allerdings um Landbesitz handelte und mein Vater vermutlich mehr bewegliche Güter besaß. Ihr Haus war geräumig und stand für sich, eine Stadtvilla mit fließend Wasser und Kanalisation, aber etwas verwohnter Inneneinrichtung. In Ermangelung teurer Kunstwerke griffen sie für die häusliche Gemütlichkeit auf altmodische Dinge zurück. Heute plätscherten die Springbrunnen im Innenhof fröhlich vor sich hin, aber als der Senator mich seinem ältesten Sohn vorstellte, hätten wir mehr als das zur Kühlung gebraucht.
Aelianus war zwei Jahre jünger als Helena und zwei Jahre älter als Justinus. Er sah seinem Vater sehr ähnlich – borstiges Haar und etwas krumme Schultern. Stämmiger und schwerknochiger als Helena und Justinus, sah er daher weniger gut aus. Sein arrogantes Benehmen war typisch
Weitere Kostenlose Bücher