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Gnadenfrist

Titel: Gnadenfrist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lindsey Davis
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Kopf.
    Mein Herz machte einen unangenehmen Satz. »Zeig sie Marcus, Gaius«, drängte Helena, als hätte sie die Marke bereits gesehen. Was er da vorsichtig aus einem Lappen auswickelte, war eine schlichte Knochenscheibe. Gaius hielt sie mir auf dem Lappen hin, wollte sie offenbar nicht berühren. Die Scheibe sah sauber aus. Ich nahm sie zwischen die Fingerspitzen. Ein Nerv in meinem Handgelenk zuckte unwillkürlich.
    Die Scheibe hatte oben ein rundes Loch, durch das zwei verschlungene Lederschnüre führten. Eine davon war zerrissen. Die andere war noch festgeknotet. Auf einer Seite der Scheibe waren die Buchstaben COH IV zu sehen. Sie standen sehr sauber in der Mitte, mit einem Zwischenraum, der klarmachte, daß die letzten beiden Buchstaben die Zahl Vier bedeuteten. Am Rand entlang war in kleineren Buchstaben das Wort ROMA zu lesen, wieder gefolgt von einem Abstand, dann PRAEF VIG. Ich drehte die Scheibe um. Auf der Rückseite war weniger ordentlich ein Männername eingeritzt. Ein Name, den ich kannte.
    Mein Gesicht zeigte keine Regung. »Wo ist die Leiche, Gaius?«
    Gaius mußte den düsteren Ton in meiner Stimme bemerkt haben. »Sie bringen sie von Ostia hierher.« Er räusperte sich. »Es war nicht leicht, einen Fuhrmann zu finden.«
    Ich schüttelte den Kopf. Ich konnte mir ausrechnen, wie viele Tage die Leiche im Hafen gelegen haben mußte. Die häßlichen Einzelheiten wollte ich gar nicht wissen.
    Die Zöllner bildeten sich sicher was darauf ein, die Schrift auf der Scheibe richtig gedeutet und entschieden zu haben, sie so bald wie möglich an höherer Stelle vorzulegen. Der gesamte Zoll hielt sich nämlich für blitzgescheit. Trotzdem war es meinem Schwager, auch schon bevor ich kam, bestimmt nicht wohl in seiner Haut. Beamte halten zusammen. Ein Schlag gegen einen Arm des öffentlichen Dienstes versetzt sie alle in Bestürzung. Gaius, der sich zwar mit Wonne auf jede Krise stürzte, hier aber die Auswirkungen ahnte, murmelte: »Ist es schlimm, Falco?«
    »Es könnte nicht schlimmer sein.«
    »Was ist passiert?« wollte Junia wissen.
    Ich beachtete sie nicht. »Ist der Mann ertränkt worden, Gaius?«
    »Nein. Sie haben ihn nur in den Kiel eines alten Kahns geworfen, der schon seit Monaten im Schlamm festsitzt. Einer unserer Jungs hat Fußspuren im Schlick entdeckt und dachte, er wäre auf Schmuggler gestoßen. Er hat sich furchtbar erschreckt. Statt der erwarteten Schmuggelware fand er die Leiche. Diejenigen, die ihn in den Kahn geworfen haben, dachten sicher, niemand würde sich je die Mühe machen, da rauszuwaten und nachzusehen.«
    »Du meinst, der Kahn war ein sichereres Versteck als das Meer, das die Leiche vielleicht an Land gespült hätte?«
    »Sieht so aus, als wäre der Mann erwürgt worden, aber es ist schwer zu beurteilen. Niemand wollte die Leiche anfassen. Doch das mußten wir natürlich«, fügte Gaius hastig hinzu. »Nachdem sie nun mal entdeckt war, konnten wir sie ja nicht dort liegen lassen.« Wie schön, daß der Zoll so um öffentliche Ordnung und Sauberkeit bemüht war.
    »Hing die Knochenscheibe an der Leiche?«
    Etwas an Gaius’ Verhalten ließ mich wünschen, ich hätte die Frage nicht gestellt. Er errötete leicht. Auch Zöllner haben ihre großen Augenblicke. Widerspenstigen Importeuren Geld abzuknöpfen, bringt ihnen oft Ärger ein, der aber meist über Gebrüll und wüste Beschimpfungen nicht hinausgeht. Mit einem unterdrückten Schaudern gestand er das Schlimmste ein: »Wir sahen die Lederbänder. Sie hatten dem armen Kerl die Marke offensichtlich in den Mund gestopft. Es sah so aus, als hätten sie ihn gezwungen, sie zu schlucken, während sie ihn umbrachten.« Ich schnappte nach Luft. Vor meinem inneren Auge sah ich ein jungenhaftes, fröhliches Gesicht mit blitzenden Augen und einem begeisterten Grinsen. Gaius fragte: »Wird jemand vermißt?«
    »Keiner, von dem die Kohorte wußte.«
    »Es ist also einer von ihnen?«
    »Ja«, erwiderte ich knapp und stand auf. »Ich kannte ihn flüchtig. Die Sache ist sehr wichtig, Gaius – für die Kohorte und für Rom. Ich begleite dich zu Rubella.«
    Sorgfältig wickelte ich den Lappen wieder um den wichtigen Inhalt. Gaius streckte die Hand danach aus, doch meine Finger hatte sich bereits über dem Bündel geschlossen.
     
    Wir fanden Marcus Rubella im Hauptquartier der Kohorte, was mich überraschte. Um diese Tageszeit dachten die meisten Menschen bereits an Entspannung und Abendessen. Im Geist hatte ich Rubella als jemanden

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