Gnadenfrist
COH IV, am Rand entlang ROMA und PRAEF VIG. Auf der Rückseite hatte Petro in seiner ordentlichen, gründlichen Art seine drei Namen eingeritzt.
»Du trägst sie nicht um den Hals?«
»Manche tun es. Ich mag keine Bänder um den Hals – man kann damit zu leicht erwürgt werden.« Wie recht er hatte.
Ich gab ihm seine Marke zurück. Dann zog ich die andere aus der Tasche und hielt sie ihm schweigend hin. Inzwischen war er schon darauf vorbereitet. Sein Gesicht war voller Melancholie. Er drehte die Scheibe um und las den eingeritzten Namen: Linus.
Petronius saß auf einer der zierlichen Liegen, beugte sich vor, Knie gespreizt, die Hände, in denen er die Knochenscheibe hielt, dazwischen. Ich erzählte ihm, was passiert war und zu welchen Schlüssen die Zollbeamten gekommen waren. Dann ging ich hinüber zur Falttür und starrte hinaus in den Garten, während Petro die Fakten zu verarbeiten suchte.
»Das ist alles mein Fehler.«
Ich wußte, daß er das sagen würde. Es war niemandes Fehler, aber die Schuld auf sich zu nehmen, war für Petro die einzige Möglichkeit, seinen Schmerz zu bewältigen.
»Du weißt, daß das nicht stimmt.«
»Wie kann ich die Burschen kriegen, Falco?«
»Ich weiß es nicht. Wir können noch nicht mal richtig loslegen; erst müssen die ganzen Formalitäten erledigt werden. Rubella wird einen Beileidsbrief an die Verwandten schicken, aber du weißt ja, wie der klingen wird.« Wir hatten beide schon erlebt, wie offizielle Stellen Familien über Todesfälle informieren.
»Oh, ihr Götter! Das geht nicht.« Petronius richtete sich auf. »Ich muß selbst hingehen. Muß es seiner Frau sagen.«
»Ich komme mit«, sagte ich. Zwar hatte ich Linus kaum gekannt, ihn nur einmal gesehen, aber selbst dieser kurze Augenblick hatte mich berührt. Ich war in die Sache verwickelt.
Petro bewegte sich nicht. Er kämpfte immer noch mit sich. »Ich versuche, mir nicht auszumalen, was das bedeutet.«
Er sprach den Namen aus, der auf der Marke stand, die er so sanft umschlossen hielt: LINUS. Linus, der junge, eifrige Geheimagent, den Petro auf das Schiff eingeschleust hatte, das den verurteilten Verbrecher Balbinus ins Exil bringen sollte.
Linus’ Tod in Ostia deutete stark darauf hin, daß Balbinus Pius nie abgereist war. Das Schiff mußte an der Hafeneinfahrt Passagiere abgesetzt haben. Und da, oder sehr kurz danach, war Petros Agent ermordet worden.
IL
Normalerweise mochte ich Witwen. Sie sind welterfahrene Frauen, oft ohne Beschützer und meist abenteuerlustig. Diese hier war anders. Sie ahnte noch nicht, daß sie Witwe war.
Ihr Name war Rufina. Mit einem leicht affektierten Lächeln ließ sie uns ein und bot uns Wein an, den wir ablehnten.
»Seien Sie gegrüßt, Chef!«
Rufina sah aus wie fünfunddreißig, auf jeden Fall älter als Linus. Sie hatte sich herausgeputzt, obwohl ihr Schmuck hauptsächlich aus farbigen, auf Draht aufgezogenen Glasperlen bestand. Sie war sehr schlank und nicht so hübsch, wie sie zu sein vorgab. Ihr Verhalten war so aufdringlich und anbiedernd, daß es kaum zu ertragen war.
»Das wird auch Zeit, muß ich schon sagen. Ich hatte gehofft, Sie würden irgendwann vorbeischauen. Er ist berühmt für seine Gewissenhaftigkeit«, meinte sie kichernd zu mir. Mir wurde fast schlecht. Sie schlug die Beine übereinander, ließ Knöchel und Zehen unter dem Saum des Kleides Vorschauen. »Bringen Sie mir Nachricht von meinem Mann?« Es war unerträglich. Es gelang ihr, die Erwähnung ihres Ehemannes noch anzüglicher klingen zu lassen als ihre Bemerkung darüber, daß Petro sie während Linus’ Abwesenheit besucht hatte.
Petronius schloß kurz die Augen. »Ja.«
Ich sah mich um. Linus und Rufina wohnten in einer nach hinten gelegenen Wohnung im dritten Stock, die offenbar nur zwei Zimmer hatte. Sie hatten sich nicht die Mühe gemacht, die Wohnung zu renovieren; sie wies die üblichen, schlampig verputzten Wände auf, halbherzig von einem Maler mit roten Ornamenten verziert, der nur zwei Muster beherrschte und nur eines davon richtig. Erleichtert sah ich, daß nichts auf Kinder hindeutete.
Möbel gab es nur wenige. In einer Ecke stand ein Webrahmen. Rufina war Heimarbeiterin, obwohl der Zustand ihrer Weberei – unordentliche Wollstränge in einem Korb auf dem Boden und überall verstreute Webstuhlgewichte – auf eine eher lethargische Haltung zu ihrer Arbeit hindeutete. Von einer Nische in der Wand aus beherrschten die beiden Hausgötter, die Laren und Penaten, den Raum.
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