Gnadenfrist
fröhlichen, furchtlosen Freiwilligen auf. Sie steckte noch in der Seemannsverkleidung, die wir wiedererkannten. Sie hatte die richtige Größe. Auch der Körperbau stimmte. Zusammen mit der Erkennungsmarke überzeugte uns das alles davon, daß wir Linus vor uns hatten.
Balbinus war ein dummes Risiko eingegangen. Er mußte es so eilig gehabt haben, wieder an Land zu kommen, daß er nicht abwarten konnte, bis die Aphrodite die flachen Küstengewässer verlassen hatte und in tieferes Wasser gesegelt war, wo eine Leiche sicher über Bord gestoßen werden konnte und nicht wieder auftauchte. Deshalb hatte er Linus mit zurück an Land gebracht. Irgend jemand – vielleicht die Freigelassenen, die mit ihm an Bord gegangen waren – mußte ihm geholfen haben. Dann hatten Balbinus oder die anderen Linus umgebracht und seine Leiche auf eine nachlässige, unglaublich arrogante Art einfach liegengelassen.
Ich blieb bei Petronius, bis er sich wieder gefaßt hatte, und kümmerte mich dann um das Umladen des Sarges. Als der grummelnde Fuhrmann mit seinem Gefährt wieder in Richtung Ostia verschwunden war und die Offiziere vom Begräbnisverein der Vigiles den Sarg weggetragen hatten, kehrten auch wir beide der Porta Ostiensis den Rücken. Noch immer hatten wir den Verwesungsgeruch in der Nase. Schweigend gingen wir zum Flußufer hinunter.
Inzwischen war es dunkel. Zur Linken lagen die verschachtelten Gebäude der Kornspeicher und des Emporiums, zur Rechten der Pons Probus, von schwachen Lampen erhellt. Gelegentlich überquerte jemand die Brücke. Wir hörten das Schwappen des Tiber, ab und zu unterbrochen von einem Aufspritzen, das von einem Fisch oder einer Ratte stammen mochte. Auf der anderen Seite des Wassers klapperten plötzlich Eselshufe laut hörbar durch eine Straße der Transtiberina. Eine Brise ließ uns das Kinn tiefer im Kragen unseres Umhangs vergraben, obwohl die Luft feuchtwarm war; es war wohl eher die Erschütterung, die uns frösteln ließ.
Der Abend ließ sich nicht so ohne weiteres beenden. Schon jetzt hatte ich eine böse Vorahnung, wie er sich für mich entwickeln würde.
»Willst du was trinken gehen?«
Petronius würdigte mich noch nicht mal einer Antwort.
In dem Moment hätte ich gehen sollen.
Wir starrten noch eine Weile über den Fluß. Dann versuchte ich es erneut. »Es gibt nichts, was du tun kannst, und es ist nicht deine Schuld.«
Dieses Mal raffte er sich wenigstens zu einer Antwort auf. »Ich gehe zurück zum Wachlokal.«
»Du bist noch nicht so weit.« Ich kannte ihn besser als er sich selbst. Doch so was wollen die Leute nie hören.
»Ich muß meinen Männern sagen, daß Linus tot ist. Ich will, daß sie es von mir erfahren.«
»Zu spät«, sagte ich. »Das wird sich längst rumgesprochen haben. Wir waren länger unterwegs, als du denkst. Du hast dein Zeitgefühl verloren. Auf dem Aventin weiß es inzwischen jeder. Die ganze Kohorte weiß Bescheid.« Einer von seinen Leuten mußte es sogar schon gewußt haben, bevor wir es erfuhren. Eine Tatsache, der sich Lucius Petronius offenbar immer noch nicht stellen wollte.
»Das hier hat nichts mit dir zu tun, Falco. Es betrifft nur meine Männer und mich.«
Die Katastrophe kam unausweichlich näher. Er wollte unbedingt einen Streit vom Zaun brechen. Je heftiger, desto besser. Es hätte jeden treffen können, aber als sein bester Freund war ich bei ihm geblieben und bekam nun seine volle Wut ab.
»Du bist noch nicht so weit«, wiederholte ich. »Es gibt ein paar Dinge, die du vorher sorgfältig überlegen solltest.«
»Ich weiß, was getan werden muß.«
»Das glaub ich dir einfach nicht.«
Irgendwo in der Ferne erklang eine Trompete. Ein vertrauter Klang nach den Jahren in der Legion, aber wir waren zu beschäftigt, um darauf zu reagieren. Im Prätorianerlager hatte die Wache gewechselt. Ich hätte nicht sagen können, in welchem Teil der Nacht wir uns befanden. Normalerweise wußte ich das immer, selbst wenn ich aus tiefem Schlaf erwachte. Heute wirkten die Dunkelheit und die Geräusche der Stadt anders als sonst. Der Gang der Ereignisse war unnatürlich geworden. Gefühle hatten alles verschwimmen lassen. Die Morgendämmerung mochte Stunden oder auch nur Minuten entfernt sein.
Ich merkte, daß Petronius mir jetzt größere Aufmerksamkeit schenkte. Geduldig begann ich zu erklären. Mir war klar, daß ich unsere Freundschaft aufs Spiel setzte.
»Die Sache hat unangenehm genug angefangen, aber jetzt ist sie regelrecht schmutzig. Du
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