Gnadenfrist
Ton war drängend, angespannt, paßte aber wenig zu der Situation, die ich mir ausgemalt hatte.
Ich starrte Helena an, während sie den Umhang fester um sich zog. Das Mädchen, das ich geliebt hatte – nein, das ich liebte. Mit meiner Schwester, der einzigen, die ich bis dato erträglich gefunden hatte. »Ich überwache das Haus.«
Helena kniff ein wenig den Mund zusammen. Mir wurde klar, daß ich sie in den letzten zwei Tagen kaum gesehen hatte. Heute morgen hatte ich das Haus verlassen, bevor sie aufgewacht war. Nur an der schmutzigen Tunika am Haken hinter der Tür hatte sie sehen können, daß ich letzte Nacht überhaupt nach Hause gekommen war.
»Was ich hier tue, ist wichtig, Helena. Das weißt du.«
»Nein, das weiß ich nicht!« Sie stampfte tatsächlich mit dem Fuß auf. »Ich habe dich seit vorgestern weder gesehen noch mit dir gesprochen. Ich wollte mit dir reden …«
»Das ist mir klar.« Irgendwas stimmte hier nicht. Auch Helena war das bewußt. Verunsichert sahen wir einander an. Mein Gesicht schien zu Holz geworden zu sein. Ihres war voller Angst und Gereiztheit. Ich krächzte: »Ist alles in Ordnung mit dir?«
»Wir hatten große Angst, aber jetzt ist es besser.«
»Hast du Schmerzen?«
»Du liegst total daneben.«
Maia hatte als erste kapiert. Aufgeweckt und sarkastisch, wie sie war, hatte sie meine geballten Fäuste richtig interpretiert. Sie schlug so heftig die Kapuze zurück, daß ihre schwarzen Locken erbebten. Ihre Augen blitzten. »Juno Matrona! Helena Justina, dieser unmögliche Irre denkt, jemand hätte gerade mit der langen Nadel an dir rumgefummelt!«
»Oh, tausend Dank, Maia.« Die Sache glitt ins Ordinäre ab. »Immer einen flotten Spruch auf den Lippen!«
»Wie konntest du nur, Bruder?«
Mir war übel. »Famia hat so was angedeutet.«
»Ich bring ihn um!« knurrte Maia durch zusammengebissene Zähne. »Und anschließend bring ich dich um, weil du ihm geglaubt hast!« Während Helena noch ganz verdattert dastand, stürmte meine Schwester davon und brüllte über die Schulter zurück: »Ich nehm Galla mit. Die Sänfte laß ich dir da. Tritt meinen Bruder ordentlich in den Hintern, und dann rede mit ihm , Helena, um unser aller willen!«
Ich schloß die Augen, während die Welt sich wieder beruhigte.
»Wir haben uns da drüben einen Beobachtungsposten eingerichtet. Kommst du mit rein?«
»Ist das eine Entschuldigung?« Helena war aufgegangen, daß sie das Recht hatte, beleidigt zu sein. In ihren Augen glitzerte es leicht; sie genoß die Macht. Aus den Augenwinkeln bekam ich mit, wie Maia meine Schwester Galla aus der Sänfte zerrte und mit ihr davonstapfte.
»Was zum Hades macht Galla hier?« brauste ich auf. Dann warnte ich matt: »Du hast mich furchtbar erschreckt. Ich bin nicht in der Verfassung, jetzt auch noch Prügel zu beziehen.« Helena starrte mich an. Sie sah müde und verzagt aus. Vermutlich hatte ich dazu beigetragen. Ich ließ den Kopf hängen, bereit, jeden Trick anzuwenden. »Ich liebe dich, Helena.«
»Dann vertrau mir!« schnappte sie zurück, wurde jedoch gleich darauf weich und hielt mir die Wange zu einem formellen Begrüßungskuß hin; ich gehorchte vorsichtig. Als ich den Kopf zurückzog, veränderte sich ihr Gesicht, sah plötzlich aus, als würde ihr alles zuviel. »Ach, hör auf, so blöd zu sein, und nimm mich in den Arm!« rief sie.
Begnadigung.
»Eigentlich«, sagte sie, nachdem ich sie fest umarmt und nach drinnen geführt hatte, »habe ich versucht, ein Kind zu retten. « Ich nahm den Rüffel hin wie ein Mann, ohne zusammenzuzucken. »Die Leute, die Tertulla festhalten, haben gestern eine weitere Botschaft geschickt …«
»Gestern?«
»Ich wollte mit dir darüber reden, Marcus, aber du hast mir ja keine Chance gegeben!« Rasch und gleichzeitig wütend auf mich selbst deutete ich eine weitere Entschuldigung an. Mein kriecherisches Gehabe begann sogar mich zu langweilen. Helena brummelte, dann gab sie zu: »Ich beschloß, um des Kindes willen selbst etwas zu unternehmen.«
»Registriere bitte, wie gelassen ich das hinnehme, Helena.«
»Der Kandidat erhält hundert Punkte für seine verständnisvolle Art.« Sie merkte, daß ich vor Besorgnis überkochte.
»Und anstatt die Vigiles zu benachrichtigen, hast du ein paar weibliche Leibwächter mitgenommen und selbst das Lösegeld für das Kind übergeben?«
»Was blieb uns denn anderes übrig?«
»Wenn du Petro die Adresse gegeben hättest, hätte er das Haus stürmen
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