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Gnadenfrist

Titel: Gnadenfrist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lindsey Davis
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Während sie jetzt fast träumerisch innehielt, um einen Dorn aus ihrem Finger zu saugen, strahlte sie eine seltsame Stille aus. Sie wirkte ganz weit weg, sich ihrer eigenen Gedanken aber völlig unbewußt.
    Ich hatte mich weder bewegt noch ein Geräusch gemacht, doch sie drehte sich rasch um. »Marcus!«
    Wir umarmten uns. Ich vergrub meinen Kopf an ihrem weichen Hals, stöhnte vor Dankbarkeit über die Freude, die mein Anblick auf ihrem ebenmäßigen, lieben Gesicht ausgelöst hatte.
    Trotzdem beunruhigte es mich. Ich würde eine Glocke an unserer Eingangstür anbringen müssen, damit kein anderer sich so anschleichen konnte. Das Mietshaus, in dem wir wohnten, war ein ziemlich übles Gemäuer.
    Vielleicht sollte ich etwas Besseres für uns suchen.
     
    Helena wirkte müde. Wir waren beide noch erschöpft von unserer Heimreise aus dem Orient. Beim Hereinkommen hatte ich gesehen, daß sie meinen Ausflug nach Ostia dazu benutzt hatte, auszupacken und aufzuräumen. Meine Mutter oder eine meiner Schwestern waren womöglich gekommen, um ihr zu helfen, machten aber zuviel Wirbel und waren vermutlich nach einer höflich servierten Tasse Zimttee und ein paar Geschichten über unsere Reise verabschiedet worden. Helena machte niemals Wirbel. Sie ordnete gern alles auf bestimmte Weise – um dann nicht mehr daran zu denken.
    Ich zog sie zu der wackeligen Bank, die noch schiefer war, als ich sie in Erinnerung hatte. Leise fluchend bückte ich mich, schob ein Stückchen eines zerbrochenen Dachziegels darunter – was bedeutete, daß wir vermutlich irgendwo ein neues Loch im Dach hatten – und brachte die Bank wieder einigermaßen ins Gleichgewicht. Dann setzten wir uns schweigend und schauten hinüber zum Fluß.
    »Was für eine Aussicht!«
    Sie lächelte. »Du kommst gern heim, Marcus.«
    »Zu dir zu kommen, ist das Beste daran.«
    Wie gewöhnlich übersah Helena meinen lüsternen Blick – wie immer merkte ich allerdings, daß sie ihn begrüßte. »Alles gutgegangen in Ostia?«
    »Mehr oder weniger. Wir sind vor etwa einer Stunde nach Rom zurückgekommen. Papa hat sich schließlich doch ein Fünkchen Interesse abgerungen. Nachdem ich die Knochenarbeit erledigt hatte, tauchte er auf und übernahm am Emporium das Kommando.« Zum Glück wohnte mein Vater am Flußufer unterhalb des Aventin, nur ein paar Schritte von den Kais entfernt. »Er hat das Glas, also sieh zu, daß er dir die Provision zahlt.«
    Helena schien über meinen Rat zu lächeln. »Hat Petronius alles erledigen können? Und wirst du mir jetzt erzählen, worum es bei dem ganzen Theater ging?«
    »Er hat einen Verurteilten ins Exil geschickt.«
    »Einen echten Verbrecher?« fragte sie und hob die Augenbrauen, als sie die Schärfe in meinem Ton hörte.
    »Den schlimmsten.« Petronius Longus wäre entsetzt gewesen, wenn er gehört hätte, wie offen ich mit ihr darüber sprach; er erzählte seiner Frau nie von seiner Arbeit. Helena und ich hatten immer über alles gesprochen; für mich war die Sache mit dem großen Boss nicht erledigt, bevor Helena nicht die ganze Geschichte kannte. »Balbinus Pius. Wir haben ihn an Bord seines Schiffes gebracht, und einer von Petros Männern fährt als Matrose verkleidet mit. Wir wollen sicher sein, daß er nicht vorzeitig an Land geht. Übrigens, ich habe Petro und Silvia zum Essen eingeladen, sobald wir uns hier wieder eingerichtet haben. Alles in Ordnung soweit?« Ich machte mir nicht die Mühe, mich nach dem kahlen Raum hinter mir umzuschauen: ein kleiner Tisch, drei Schemel, Borde mit ein paar irdenen Krügen, Töpfen und Bechern, eine fast unbrauchbare steinerne Kochstelle.
    »Oh ja.«
    In den letzten Monaten hatte sich meine Schwester Maia von Zeit zu Zeit tapfer die sechs Treppen hinaufgequält, um nachzuschauen, ob niemand eingebrochen war und ob Smaractus, mein schweinischer Hauswirt, nicht wie üblich in meiner Abwesenheit Untermieter in meine Bude gestopft hatte und so doppelt Miete kassieren konnte. Maia hatte auch die Pflanzen auf dem Balkon gegossen und die Kräuter beschnitten, aber mit der Rose wollte sie nichts zu tun haben. Sie war der Ansicht, ich hätte sie nur gepflanzt, damit ich beim Verführen von Mädchen kein Geld für Blumen ausgeben müßte. Meine Schwestern sind von Natur aus unfair.
    Ich griff nach Helenas Finger und entfernte den Dorn durch geschickten Druck mit meinem Daumennagel. Dabei streichelte ich die zwei Monate alte Narbe auf ihrem Unterarm, die von dem Skorpionstich in der syrischen Wüste

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