Gnadenfrist
überhaupt keinen Fortschritt gemacht. Doch das war nicht schlimm. Ihre Motive ließen sich nie voraussagen. Das war der Grund, warum ich sie liebte; vorhersehbare Frauen langweilen mich. Ich konnte beharrlich sein. Vielleicht liebte sie mich deswegen.
Falls sie das denn tatsächlich tat. Ein wohliger Schauder bei der Erinnerung an unser gestriges Liebesspiel überzeugte mich – und ich hörte auf, mir Sorgen zu machen.
Ich wusch mir das Gesicht, spülte mir den Mund aus und biß in ein hartes Brötchen. Eins von gestern; für frisches Brot zum Frühstück wohnten wir zu hoch über der Straße. Dazu nahm ich einen Schluck von dem warmen Getränk, das ich für Helena zubereitete. Während sie es schläfrig im Bett zu sich nahm, schlüpfte ich in eine Tunika, die in meiner Abwesenheit als leckeres Mottenfutter gedient haben mußte, und erneuerte meine Bekanntschaft mit einem verknautschten alten Ledergürtel, der aussah, als sei er aus der Ochsenhaut gegerbt worden, die Romulus zum Vermessen Roms benutzt hatte. Ich zerrte einen Kamm durch meine Locken, traf auf eine verfilzte Stelle und beschloß, meine Haarpracht so zu belassen, wie sie war, weil sie gut zu meiner saloppen Kleidung paßte. Dann putzte ich meine Stiefel, schärfte mein Messer, zählte mein Kleingeld – was rasch getan war – und befestigte die Börse an meinem heutigen Gürtel.
Ich küßte Helena, gefolgt von ein wenig Gefummel unter der Bettdecke. Sie nahm es hin und lachte mich an. »Oh, geh los und protz da mit deiner arabischen Sonnenbräune, wo sich die Männer zur Schau stellen …« Heute würde sie mich leichten Herzens dem Forum, den Thermen und sogar den kaiserlichen Amtsstuben überlassen. Sie wußte, daß ich zu ihr zurückkehren würde, sobald ich von der Stadt genug hatte.
Nach kurzem Kampf mit der Eingangstür, die gern klemmte, humpelte ich die Treppe hinab. Ich hatte mir beim Tritt gegen den Türrahmen die Zehen angeschlagen und fluchte leise: wieder zu Hause. Alles war noch so, wie ich es in Erinnerung hatte.
Ich nahm die vertraute Umgebung des schäbigen Mietshauses in mich auf: Über fünf Stockwerke drangen wütende Stimmen hinter Portieren und Halbtüren an mein Ohr. Zwei Wohnungen pro Stockwerk; zwei oder drei Zimmer pro Wohnung; zweieinhalb Familien pro Unterkunft und etwa fünf bis sechs Personen pro Zimmer. In manchen wohnten weniger Menschen, unterhielten aber kleine Werkstätten, wie der Spiegelpolierer oder der Schneider. Manchmal lebte in einem Zimmer eine alte Frau, die ursprüngliche Mieterin, inzwischen fast vergessen unter den lärmenden Eindringlingen, denen Smaractus Teile ihrer Behausung untervermietet hatte, um ihr »mit der Miete zu helfen«. Er war ein professioneller Hauswirt. Alles, was er tat, half nur ihm selbst.
Mir fielen ein paar neue Gladiatorenzeichnungen an den abblätternden Wänden auf. Im Treppenhaus roch es nach nassem Hund und dem gekochten Kohl von gestern. Als ich um eine dunkle Ecke bog, konnte ich gerade noch einem Kinderspielzeug ausweichen, einem Tonpferdchen auf Rädern, das mir beim Drauftreten wahrscheinlich den Fuß weggerissen und ein gebrochenes Rückgrat eingebracht hätte. Ich legte das Pferdchen auf einen Vorsprung, neben eine zerbrochene Rassel und eine winzige Sandale, die schon vor meiner Abreise nach Syrien dort gelegen hatte.
Die Treppe endete draußen in einem dunklen Winkel unter zwei Säulen, die einst einen Portikus gebildet hatten. Die restlichen Säulen waren längst umgefallen und verschwunden; man dachte besser nicht daran, was nun mit den anderen Teilen des Gebäudes, die sie früher gestützt hatten, war. Jetzt lag der größte Teil der Front offen und ließ Lenias Wäscherei Platz, sich auszubreiten. Sie hatte das gesamte Erdgeschoß für sich, wozu ihrer Meinung nach ebenfalls das, was als Bürgersteig galt, und die Hälfte der staubigen Brunnenpromenade gehörten. Im Moment waren ihre Angestellten mit der ersten morgendlichen Wäsche beschäftigt, so daß mir warme, feuchte Luft ins Gesicht schlug, als ich die Straße betrat. Mehrere Reihen klatschnasser Togen und Tuniken hingen hübsch in Kopfhöhe, bereit, jedem ins Gesicht zu klatschen, der aufrecht das Haus verließ.
Als guter Nachbar ging ich zu Lenia. Der süßliche Gestank des Urins, der zum Bleichen der Togen verwendet wurde, traf mich wie ein alter Bekannter, den ich zu meiden versuchte. Ich hatte Lenia seit meiner Rückkehr noch nicht gesehen. Als jemand meinen Namen rief, tauchte sie plötzlich
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