Gnadenfrist
ich hatten unsere eigenen Sorgen und waren im Moment als Pflegeeltern denkbar ungeeignet. In meiner Familie gab es bereits zu viele Kinder. Obwohl kein Mitglied des Didius-Clans ein ähnliches Schicksal wie dieses Kind erleiden würde, war es ganz undenkbar, noch Platz für eines zu finden, das keinen Anspruch auf uns geltend machen konnte.
Wir konnten den Kleinen natürlich als Sklaven verkaufen. Was ihn allerdings nicht überglücklich machen würde.
Dem Baby schien das Waschen zu gefallen. Offenbar beruhigte es ihn, und als Helena sich so weit herabließ, ein wenig mit ihm zu planschen, schien er zu wissen, daß Glucksen und Mitspielen angebracht waren. »Ein Sklavenkind ist er nicht«, bemerkte ich. »Er war schon mit nichtsnutzigen Müßiggängern zusammen, die im ganzen Zimmer Wasser verspritzen.«
Helena ließ mich den Kleinen aus seiner improvisierten Badewanne heben, hatte aber ein Handtuch zum Abtrocknen parat. Er hatte offenbar beschlossen, daß es jetzt Zeit für ernsthaftere Forderungen war: vorzugsweise was zu essen. Wir trockneten ihn sorgfältig ab, kitzelten ihn dabei noch hier und da und wickelten ihn in eine Stola, während wir überlegten, wo wir ihn für die Nacht sicher unterbringen konnten. Da aber war er mit seiner Geduld am Ende und begann lauthals zu brüllen.
Leider tauchte ausgerechnet in diesem Moment ein Palastsklave auf und holte mich zu einem dringenden vertraulichen Treffen mit dem ältesten Sohn des Kaisers.
Ich verbiß mir ein Grinsen, küßte Helena zärtlich, entschuldigte mich für den raschen Abgang – und überließ ihr den Rest.
XXVI
Rom war voller Sänften, in denen die Reichen zum Festmahl getragen wurden. Deshalb hallten die Straßen von den rauhen, aufgebrachten Stimmen der Sänftenträger wider, die den schweren Lastkarren nach Einbruch der Dunkelheit nun die Straße streitig machten. Gelegentlich übertönten Flöten- und Harfenklänge den Lärm. Bei den Tempeln und Basiliken um das Forum waren die Strapsmedusen und Nachtschwalben schon im Einsatz. Es schienen mehr als sonst. Oder ich hatte nur Nutten im Kopf.
Ich wurde zum Goldenen Haus geführt. Der Sklave meldete sich am marmorverkleideten Eingang, während die Prätorianer uns mißtrauisch beäugten. Dann ging er mir voraus in den Westflügel, zu den Privatgemächern, die ich noch nie betreten hatte. Als wir die Wachen hinter uns hatten, wurde es ruhiger. Es war, als hätte man ein freundliches, wenn auch äußerst luxuriöses Heim betreten.
Titus war im Garten. Die Fenster der prunkvollen Schlafzimmer führten alle auf das Forumtal hinaus. Einst hatte man von dort auf den Großen See geschaut; jetzt hatte dieser der Baustelle für das Amphitheatrum Flavium Platz gemacht. Ein Stück weiter lag, dekorativ von Außenlichtern erhellt, ein geschützter Innenhof. Er wurde von einer riesigen Porphyrvase beherrscht, enthielt aber auch ein paar ausgesucht schöne Statuen, an denen Nero sich erfreut hatte. Die Bepflanzung war geschmackvoll, das Buschwerk makellos, die Abgeschiedenheit göttlich.
Beim Thronerben und Mitregenten des Kaisers saß eine Frau, die an die vierzig Jahre älter als er sein mochte. Da er ein gutaussehender Mann in den Dreißigern und momentan unverheiratet war, kamen mir sofort die wildesten Gedanken. Seine Mutter konnte es nicht sein; Vespasians Frau war tot. Die Obervestalin würde zwar eine regelmäßige Palastbesucherin sein, aber dieses ältliche Muttchen war nicht wie eine Vestalin gekleidet. Die beiden hatten sich freundlich unterhalten. Als Titus mich durch die Kolonnaden kommen sah, machte er Anstalten, sich zu erheben, als wolle er sich für die Dauer unseres Gesprächs von ihr verabschieden, aber die Frau hob die Hand, um ihn aufzuhalten. Er küßte sie auf die Wange, sie erhob sich und ging. Das konnte nur eines bedeuten.
Ihr Name war Caenis. Sie war eine Freigelassene und Vespasians Geliebte. Soviel ich wußte, mischte sich Caenis nicht in die Politik ein, obwohl jede Frau, die Vespasian vierzig Jahre die Treue gehalten hatte und die Titus respektvoll behandelte, potentiell einen enormen Einfluß haben mußte. Die Freigelassene war ein in den Kulissen wartender Skandal, aber der kühle Blick, den sie mir zuwarf, machte klar, daß ein Skandal keine Chance haben würde.
Als sie an mir vorüberkam, trat ich bescheiden zur Seite. Ihr intelligenter Blick und ihre aufrechte Haltung erinnerten mich an Helena.
»Marcus Didius!« Titus Cäsar begrüßte mich wie einen persönlichen
Weitere Kostenlose Bücher