Gnadenfrist
keine Anstalten, mir das Kind abzunehmen. Der Kleine starrte mich an, als sei ihm klar, daß dies der heikelste Moment seines Lebens sein könnte. Er war schon einige Monate alt; alt genug, um seine Umgebung wahrzunehmen.
Er wirkte gesund. Sein Haar, dunkel und leicht gelockt, war ordentlich geschnitten. Gekleidet war er in eine propere kleine Tunika, weiß, mit Stickerei am Hals. Allerdings trug er sie bereits viel zu lange. Diese Art Kinderkleidung war in Familien üblich, wo Babys regelmäßig gewickelt werden, fast immer von einem Kindermädchen; dieses Baby war seit Tagen nicht sauber gemacht worden. Es war verdreckt und wund. Ich hielt den Kleinen sehr vorsichtig.
»Der arme kleine Kerl braucht ein Bad.«
»Ich hol dir eine große Kumme«, schnaubte Helena. Sie hatte tatsächlich nicht vor, mir zu helfen.
»Zum Glück bist du in ein Haus gekommen, wo die Frauen streng sind, aber die Männer wissen, daß es nicht deine Schuld ist«, sagte ich zu dem Kleinen. Wenn ich sprach, schien er mich kaum wahrzunehmen. Ich kitzelte ihn am Kinn, und er ließ sich herab, mit Armen und Beinen zu strampeln.
Er war ein sehr ruhiges Baby. Irgendwie wirkte er zu fügsam. Ich runzelte die Stirn, und Helena, die mir inzwischen eine Kumme mit warmem Wasser gebracht hatte, beobachtete mich genau, wie sie es immer tat, wenn sie meinte, ich dächte nach. »Glaubst du, er ist mißhandelt worden?«
Ich hatte ihn auf den Tisch gelegt, eine Tunika darunter, und zog ihn aus. Er schreckte vor Berührungen nicht zurück. Insgesamt war er ein rundliches Kind mit einem guten Gewicht. Sein Körper wies weder Striemen noch blaue Flecken auf.
»Er wirkt unverletzt. Aber irgendwas ist seltsam«, sinnierte ich. »Zum einen ist er zu alt. Ungewollte Kinder werden direkt nach der Geburt ausgesetzt. Dieser kleine Kerl muß fast ein Jahr alt sein. Wer behält ein Kind so lange, pflegt es, gewinnt es lieb – und schiebt es dann sorgfältig unter die Plane eines Müllkarrens?«
»Jemand, der weiß, daß es deiner ist«, meinte Helena trocken.
»Woher denn? Ich hab den Karren erst heute abend bekommen. Und wenn ich den Kleinen finden sollte , warum dann warten, bis ich mit der Arbeit fertig war, die Plane festgezurrt hatte und wahrscheinlich nicht mehr drunterschauen würde? Ich habe ihn nur durch Zufall entdeckt. Er hätte vor Kälte sterben oder von den Ratten angenagt werden können.«
Helena untersuchte eine lose um seinen Hals hängende Kordel aus zusammengedrehtem, buntem Material. »Was hältst du hiervon? Es sind sehr feine Fäden«, sagte sie und faserte sie ein wenig auf. »Einer davon könnte Gold sein.«
»Wahrscheinlich hatte er ein Amulett. Aber wo ist es?«
»Zu wertvoll zum Wegwerfen!« Helena Justina wurde allmählich wütend. »Jemand war fähig, das Baby auszusetzen – aber nicht, bevor man ihm seine Bulla abgenommen hatte.«
»Vielleicht, weil man ihn dadurch hätte identifizieren können?«
Helena schüttelte traurig den Kopf. »In Geschichten passiert so was nie. Der verlorene Sohn hat immer irgendwelchen Schmuck bei sich, sorgfältig eingenäht in einen Saum oder so, und kann Jahre später beweisen, daß er der vermißte Erbe ist.« Sie wurde ein wenig weicher. »Vielleicht kann seine Mutter ihn nicht behalten, hat aber das Amulett als Erinnerung aufgehoben.«
»Ich hoffe, es bricht ihr das Herz! Die Tunika dürfen wir auf keinen Fall wegwerfen«, sagte ich. »Ich gebe sie Lenia zum Waschen und frage sie, ob eine ihrer Wäscherinnen die schon mal gesehen hat. Falls ja, wird sie sich bestimmt an die Stickerei erinnern.«
»Glaubst du, er ist hier aus der Gegend?«
»Wer weiß?«
Jemand würde es wissen. Mit mehr Zeit hätte ich seine Eltern wohl aufspüren können, aber das Müllbaby hatte sich den falschen Moment ausgesucht, bei mir abgeladen zu werden. Der Raubzug im Emporium würde all meine Energie fordern. Außerdem führt das Auffinden von Eltern, die ihre Babys nicht wollen, sowieso zu nichts.
Ich hatte dem Jungen einen Gefallen getan, für den er mir auf lange Sicht vielleicht gar nicht dankbar sein würde. Er war in einem so armen Bezirk gefunden worden, daß wir, die wir hier lebten, uns kaum selbst durchbringen konnten. Auf dem Aventin starb ein Drittel aller Kinder im Säuglingsalter, und viele der Überlebenden hatten wenig Aussicht auf eine glückliche Zukunft. Für ihn gab es kaum Hoffnung, selbst wenn ich jemanden fand, der sich seiner annahm. Wer das sein könnte, war mir schleierhaft. Helena und
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