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Gnadenlose Gedanken (German Edition)

Gnadenlose Gedanken (German Edition)

Titel: Gnadenlose Gedanken (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Wagner
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noch tiefer in seine Arbeit verkrochen, meine Mutter war – wie immer – alleine gelassen. Ich konnte mir sehr gut vorstellen, wie sie nun täglich in die Kirche wackelte, um gemeinsam mit diesem Hofgang für mein Seelenheil zu beten. Doch meine Seele fühlte sich eigentlich ganz wohl in meiner Haut.
    So viele Gedanken hatte ich lesen können. Und einer war spannender als der andere gewesen. Immer wieder war ich zum Kennedy-Platz gefahren, denn dort traf ich wirklich
alle
Menschen. Stundenlang saß ich am Rand des Platzes und beobachtete die Menschen. Leider gelang es mir nie, mir die Menschen auszusuchen, deren Gedanken ich ausspähen konnte. Es kam immer wie ein plötzlicher Sturm, und genauso blitzartig verschwand es wieder. Es war sehr spannend und machte mir einen kindlichen Spaß. Ich fühlte mich so überlegen! Die Leute waren für mich nur noch Marionetten. Marionetten, die ich zwar nicht führen konnte, die ich aber aushorchen konnte. Die Menschen dachten, das Einzige, was sie wirklich für sich alleine besaßen, seien ihre Gedanken. Und genau deshalb gingen sie auch so schamlos mit ihnen um. Ich hätte vorher nie gedacht, dass Menschen so abgrundtiefe Gedanken hegen könnten. Das Gegenteil wurde mir aber sehr bald klar.
    Eines Morgens stand ich wieder am Rand des Platzes und wie immer nahm niemand Notiz von mir. Ich war einfach nur ein Behinderter, der mit seiner Zeit nichts anzufangen wusste, und sich seinen sinnleeren Tag an diesem Platz vertrieb. Einige Rollstuhlfahrer trafen sich hier regelmäßig. Sie saßen zusammen und jammerten über ihre Schicksale. Darum ging es bei ihnen, wer war das ärmste Schwein? Jeder versuchte die Geschichte des Vorredners zu übertrumpfen.
    Inzwischen hatte ich gelernt, dass ich die Gedanken auch dann lesen konnte, wenn das Abhöropfer weiter weg war. Auch über größere Entfernungen hatte ich keine Schwierigkeiten, die Menschen zu lesen. Dies war mir natürlich sehr recht, konnte ich doch so die Distanz wahren, die mir immer noch so wichtig war. Das einzige Problem, was ich immer noch hatte, war, den Betreffenden auszumachen. Ich empfing ein Signal, einen Gedanken, und konnte ihn manchmal erst nach einigen Minuten zuordnen. So viele Menschen waren dort versammelt, und obwohl sie alle so verschieden waren, konnte doch Jedermann jeden nur erdenklichen Gedanken haben.

    Einmal las ich die Gedanken eines Menschen, und es gelang mir erst nach etwa fünf Minuten herauszubekommen, wer es war. Einfach deshalb, weil ich nie damit gerechnet hätte, dass eine alte Dame solch schöne Gedanken haben könnte. Als ich sie dann endlich entdeckte, war ich nicht mehr länger erstaunt. Sie strahlte so eine große Lebenslust aus, wie ich es bisher kaum gesehen hatte. Sie war mindestens schon achtzig, wahrscheinlich sogar schon darüber. Sie saß auf einer Parkbank, neben ihr stillte eine junge Mutter ihr Baby. Die Oma lächelte milde, und obwohl sie einen krummen Rücken hatte, strahlte sie Würde und Stolz aus. Sie hätte geradewegs aus einem englischen Könighaus stammen können.
    Sie nahm die junge Frau neben sich nicht wahr, sie nahm überhaupt kein Wesen aus ihrer Umgebung wahr. Außer einen kleinen Spatz, der vor ihren kleinen, mädchenhaften Füssen tänzelte. Sie fütterte ihn mit Brotkrumen, die er gierig und singend aufpickte. Stumm bewegten sich die Lippen der alten Dame, sie schien sich mit dem kleinen Vogel eindringlich zu unterhalten. Wie mit einer alten Freundin.
    Es war ein sehr schönes Bild, ich konnte meinen Blick nicht mehr von ihr lassen.
    [Ja, mein kleiner Freund, das schmeckt dir, was? Na komm, Hansemann. Du heißt doch Hansemann, nicht wahr? Sicher heißt du so! Wie lange besuche ich dich jetzt schon? Wie lange kennen wir uns nun schon? Ich glaube, du bist der älteste Freund, den ich habe. Ich fürchte, du bist sogar der einzige! Aber das macht ja nichts. Du genügst mir ja auch. Wenn es dir gut geht, dann geht es auch mir gut. Und es geht dir gut, nicht wahr?]

    Hätte man diese Worte laut ausgesprochen gehört, so hätte man die Alte wohlmöglich für verrückt erklärt, und sie wäre vielleicht dort gelandet, wo meine Oma ihr Leben beendet hatte. In einer Irrenanstalt. Doch wenn ich nur die Gedanken hörte, ganz leise wie ein Flüstern, dann erschien es mir das Normalste der Welt zu sein. Dass eine alte Dame alleine auf einer Bank saß, und sich mit einem Spatz unterhielt, das war doch normal, oder nicht? Schließlich machte es sie doch glücklich. Wenn mein

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