Gnadenlose Gedanken (German Edition)
Rollstuhl zu schieben. Normalerweise hasste sie das. Ich wollte mir den letzten Rest meiner Selbstständigkeit bewahren, und den Rolli alleine fahren. Aber ich ließ sie dann doch, denn ich hatte das Gefühl, meine Mutter bräuchte etwas, um sich daran festhalten zu können.
Sie sprach kaum ein Wort auf dem Weg zum Restaurant. Scheinbar war sie immer noch beleidigt. Ich sollte mich wohl so fühlen wie ein kleiner Junge, der etwas angestellt hatte. Doch ich bereute den Vorfall nicht im Geringsten. Nur weil sie, unter kaum vorstellbarer Mitwirkung meines Vaters, mich zu Welt gebracht hatte, gestand ich ihr nicht das Recht zu, sich in mein Leben einzumischen.
Während der kurzen Fahrt konnte ich nicht in ihre Gedanken vordringen, was mich aber nicht weiter störte, da ich mir meine Kräfte für später aufsparen wollte. Schließlich galt es, einen Kirchenmann aus der Fassung zu bringen. Eine Genugtuung, die ich leider viel zu selten bekam.
Mir fielen wieder die Gedanken ein, die ich vor ein paar Tagen von einem kleinen, aufgeweckten Jungen empfangen hatte. Er war mit seiner Großmutter durch die Stadt geschlendert, bis sie an eine Jesusfigur gelangten, die wohl zum Gedenken an ein Unfallopfer am Straßenrand aufgestellt worden war. Für den kleinen Jungen stellte sie aber eine Vogelscheuche dar. Die Ähnlichkeit war aber auch wirklich verblüffend. Kein Spatz, wäre er auch noch so frech gewesen, hätte es gewagt, sich auf die ausgebreiteten Arme des angenagelten Jesus zu setzen.
Leider hatte der Junge seine Gedanken nicht laut ausgesprochen. Wenngleich es für sein leibliches Wohl wahrscheinlich besser gewesen war. Möglicherweise hatte er das geahnt, und seine Entdeckung lieber für sich behalten. Dennoch hätte ich gerne das entsetzte Gesicht der alten Damen gesehen, wenn ihr Enkel diese blasphemische Äußerung getätigt hätte.
Ich geriet manchmal ganz schön ins Staunen, wenn ich die verträumten, eisverschmierten Kinder „aushorchte“. Man sah ihnen ihre Aufmerksamkeit und ihr Interesse selten an. Meistens schienen sie ihre Umwelt überhaupt nicht wahrzunehmen, dennoch entging ihnen
nichts
!
In ihren kurzen Leben hatten sie aber schon zu oft die Erfahrung machen müssen, dass es meistens besser war, wenn sie ihre Entdeckungen und Gedanken für sich behielten. Die Erwachsenen hatten selten Verständnis für die kindlichen Gedankengänge. Sie entsprachen nicht den allgemeinen Normen, die ja angeblich so wichtig waren, um mit seinen Mitmenschen zurechtzukommen. Dass sie aber eigentlich in den meisten Fällen paradox und unmenschlich waren, bemerkten die erwachsenen Menschen nicht mehr. Und auch die Kinder lernten schnell, dass es bequemer für sie war, wenn sie sich anpassten.
Als wir das Restaurant endlich erreichten, wartete der Pfarrer bereits auf uns. Nervös sprang er von seinem Stuhl auf, als wären soeben der Papst und Mutter Theresa persönlich eingetroffen. Einen von uns schien er zu fürchten, er schaute uns wie ein angefahrenes Reh an, das nur noch auf den Gnadenschuss wartete. Mir war im Moment nur noch nicht klar, wen er mehr fürchtete. Vielleicht sogar uns beide?
„Guten Tag, Frau Braun. Guten Tag, Herr Braun.“
Er sah weder meiner Mutter noch mir in die Augen, während er uns begrüßte. Dies schien weniger an einer fehlenden Erziehung, als vielmehr an einer großen Scham zu liegen. Eines stand für mich schon zu diesem frühen Zeitpunkt unseres Treffens fest: freiwillig oder gar gerne war der Kirchenmann nicht hier!
„Gott zum Gruße, Herr Pfarrer. Wie schön, dass Sie kommen konnten. Dafür möchte ich ihnen schon jetzt herzlich danken.“
Gott zum Gruße
! Ich dachte, diese Begrüßung gäbe es nur in den uralten Heimatfilmen! Meine Mutter hatte ja manchmal schon seltsame Macken, aber
so
hatte ich sie bis heute noch nie reden hören. Das Treffen schien noch interessanter zu werden, als ich es mir erhofft hatte!
„Aber bitte! So behalten Sie doch Platz! Ich werde nur schnell den Stuhl entfernen, mein Sohn benötigt ihn ja nicht.“
Lautlos stellte sie den Stuhl an den unbesetzten Nebentisch, um mich dann an den Tisch zu schieben. Ich saß ihr gegenüber, zwischen uns hatte sich der Pfarrer wieder hingesetzt, froh, etwas zu tun zu haben.
„Ich hoffe, Sie mussten nicht zu lange warten? Wissen Sie, mit dem Rollstuhl ist es etwas mühselig und man kommt nur langsam voran.“
Sie tat beinahe so, als hätte sie mich mit meinem treuen Gefährt zum Restaurant
tragen
müssen!
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