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Gnadenlose Gedanken (German Edition)

Gnadenlose Gedanken (German Edition)

Titel: Gnadenlose Gedanken (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Wagner
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mit deiner Kanzlei verheiratet, und deine Klienten sind deine Kinder. Du hast dich doch einen Scheißdreck um mich gekümmert! Alles hast du Mama überlassen. Und sie war von Anfang an überfordert damit. Du hast es gesehen, du
musst
es gesehen haben! Doch deine Arbeit war dir wichtiger. Du bist kein Ehemann, du bist kein Vater. Sieh dir doch Mama an! Sieh nur, was du aus ihr gemacht hast! Sie ist eine alte Frau, deren einzige Freude darin besteht, sich mit einem verklemmten Popen über Gottes Gnaden zu unterhalten. Was macht ihr eigentlich aus eurem Leben, wenn du einmal zu alt für deine Chefs geworden bist? Wenn sie dir mitteilen, dass sie für dich keine Verwendung mehr haben? Sie werden dir eine vergoldete Uhr überreichen, und wenn du dann das letzte Mal dein Büro verlassen hast, werden sie sich ins Fäustchen lachen. Sie werden ausrechnen, wie viel sie an deiner Arbeitsgeilheit verdient haben, und dann werden sie eine Flasche Schampus köpfen. Du glaubst, du stehst über den Dingen. In Wahrheit laufen dir die Dinge davon. Du bist das kleinste Rädchen in der riesigen Maschinerie. Wenn du einmal ausfallen wirst, wird das keinen Menschen interessieren. Sie werden dich einfach durch ein neues, genauso naives Rädchen ersetzen. Du hast deine Arbeit immer als Fluchthilfe benutzt. Damit konntest du dich von deiner Familie fernhalten, sie dir vom Leib halten. Also fang jetzt nicht nach zwanzig Jahren plötzlich damit an, hier den Familienmenschen zu spielen. Kriech zurück in deine Kanzleihöhle und bleib dort, bis sie dich da nicht mehr gebrauchen können!“

    Ich hatte ihm die Worte in das Gesicht geschrieen, wie man in einer wilden Schneeballschlacht einen Schneeball in das Gesicht seines Gegners wirft. Schnell, kalt, nass. Meine Kehle schmerzte, als hätte ich drei Tage ununterbrochen als Marktschreier gearbeitet. Dies war insofern bemerkenswert, weil ich doch eigentlich noch nie mit meinem Vater
gesprochen
hatte, geschweige denn
geschrieen
. Aber es tat mir sehr gut. Es hatte eine befreiende Wirkung auf mich. Wie ein Sommergewitter nach einem schwülen Tag. Ich konnte wieder besser atmen. Mein Kopf war frei.

    Bevor mein Vater antworten konnte, sprach meine Mutter.

    „Ich denke, es ist besser, wenn wir jetzt gehen. Du bist undankbar, mir fehlen die Worte. Ich weiß nicht, was dich zu dem gemacht hat, was du heute bist. Aber ich denke nicht, dass es unsere Erziehung gewesen ist.“

    „Mama, ich weiß genau, was du denkst.“
    Und wie genau ich das wusste!

    „Ich weiß genau, was du über Papa denkst, auch wenn du nie darüber sprichst. Ich habe großes Mitleid mit dir. Das kannst du mir glauben.“

    „Was ich dir glauben kann, darüber bin ich mir im Moment nicht mehr so genau im Klaren. Ich wünschte, du hättest ein wenig auf Pfarrer Hofgang gehört. Dann wäre Vater und mir dieses unselige Gespräch erspart geblieben.“

    Sie war enttäuscht. Bitter enttäuscht. Soeben war ihr letzter Traum, den sie sich noch erhalten hatte, zerplatzt wie eine Seifenblase. Der Traum, sie könnte irgendwann einmal, doch eine richtige Familie haben. Doch sie wusste, dass ich Recht hatte. Mein Vater würde sich nie ändern.
    Er saß wieder teilnahmslos auf der Couch. Als wäre er ein Spielzeug, das man mit einem Schlüssel im Rücken aufgedreht hatte. Und das Räderwerk war nun abgelaufen, und er wartete geduldig auf seinen nächsten Einsatz.
    Mein Vater war es nicht gewohnt, außerhalb seiner Berufswelt Diskussionen zu führen. Meine Eltern besprachen niemals irgendwelche Ehe- oder Familienprobleme. Sie dachten, sie hätten keine.
    Wer von uns war eigentlich verkrüppelt?

5

    Die letzten Tage war ich immer öfter alleine losgezogen. Manfred wusste gar nicht, was er mit seiner plötzlichen Freizeit anfangen sollte. Er hatte schon tausendmal die Wohnung von vorne bis hinten geputzt, und langsam begann er sich zu langweilen. Doch er war auch sehr froh, dass ich mich selbstständig gemacht hatte. Er rechnete es sich als seinen Verdienst an, und irgendwie stimmte das ja auch. Wenn er mich nicht zum Einkaufen geschickt hätte, würde ich jetzt noch immer den einsamen Krüppel mimen, den die Welt verstoßen hatte.
    So aber war ich immer neugieriger geworden. Neugierig auf die Menschen und deren Gedanken. Es war mittlerweile zu einer regelrechten Sucht geworden. Ich wollte die Gedanken aufsaugen . Aufsaugen und nicht mehr loslassen.

    Meine Eltern hatten sich nicht mehr bei mir gemeldet. Mein Vater hatte sich wahrscheinlich

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