Gnadenlose Gedanken (German Edition)
zu Studienzwecken, sondern weil ich ein Krüppel bin. Zweitens ist Manfred
ständig
bei mir, weil ich
ständig
Hilfe und Pflege benötige. Und er ist der einzige Mensch, der dazu in der Lage zu sein scheint.“
Das war ziemlich gemein und verletzend, aber irgendwie hatte sie es verdient.
Zum ersten Mal, seit unserer Begrüßung, sprach mein Vater.
„Ich glaube nicht, dass du dir anmaßen darfst,
so
mit deiner Mutter zu sprechen. Sie hat dich immer geliebt, hat dir jeden Wunsch erfüllt. Sie hat es nicht verdient, dass du so mit ihr umgehst. Sie hat dich nicht von der Brücke gestoßen! Wenn ich dich daran erinnern darf, du bist aus freien Stücken gesprungen. Gott alleine weiß, welcher Teufel dich dabei geritten hat!“
Endlich war es raus. Endlich hatte er es einmal ausgesprochen. Aber auch ohne Gedankenlesen hatte ich immer gewusst, dass mein Vater so über die Sache dachte. Mit dem Sprung hatte ich mich nicht zum Krüppel gemacht, sondern
sie
zu Eltern eines Krüppels! Das war ein großer Unterschied!
„Mein größter Wille war es immer, dass es einen Wunsch gegeben hätte, den ihr mir
nicht
erfüllen konntet! Aber ihr habt mir doch immer alle Steine aus dem Weg geräumt. Erinnerst du dich noch, wie ich in der siebten Klasse beinahe sitzengeblieben wäre? Und wie du ganze zwei Stunden den Direktor mit deinem Anwaltsgesülze weichgekocht hast? Ihr habt immer alles für mich getan. Nur eines nicht. Ihr habt mich nie selber etwas tun lassen. Alles habt ihr mir abgenommen. Nie musste ich um etwas kämpfen. Ich war immer der Sieger, ohne überhaupt zum Kampf antreten zu müssen. Denn ihr habt die Rollen von Trainer und Schiedsrichter übernommen. Also erspar mir diese Vorwürfe!“
Es war mir das erste Mal gelungen, meinen Vater aus der Reserve zu locken. Er hatte seine Gefühle, soweit er überhaupt welche besaß, immer gut im Griff. Ich glaubte, so mancher seiner Kollegen hätte mich in diesem Moment beneidet. Das war bestimmt eines seiner Geheimnisse, warum er in den Verhandlungen immer so erfolgreich war. Weil er sich ständig unter Kontrolle hatte. Man konnte kaum gegen einem Anwalt bestehen, der seine Schwachstellen nicht entblößte. Mir war es heute gelungen, und ich war sehr stolz darauf.
Mein Vater bekam jetzt sogar einen roten Kopf, so sehr stieg der Zorn in ihm auf.
„Was heißt denn hier "Vorwürfe“?“
Bedauerlich, dass ich nicht seine Gedanken lesen konnte. Ich empfing lediglich ein paar undeutliche Signale von meiner Mutter, die ich allerdings nicht so richtig deuten konnte. Wahrscheinlich, weil ich mich jetzt ganz auf den Alten konzentrieren musste.
„Ich habe dir niemals irgendetwas vorgeworfen, obwohl es bestimmt oftmals einen Grund dazu gegeben hätte. Natürlich habe ich stets versucht, dir den Rücken freizuhalten. Ist das etwa falsch? Du warst doch immer unfähig, auch nur die kleinsten Probleme alleine zu bewältigen. Du warst doch immer ein Versager! Das einzige Talent, was du jemals besessen hast, war das Schwimmen. Sonst warst du doch immer eine Niete. Ich durfte dir das nur nie sagen, Mutter wollte es nicht. Sie wollte dich immer nur schonen und beschützen. Wenn es nach mir gegangen wäre, dann hätte ich dir schon vor zehn Jahren beigebracht, wie du dich ohne fremde Hilfe durchschlagen musst. Aber sie wollte es nicht. Also habe ich es mir verkniffen. Und heute sehe ich, dass es ein großer Fehler war. Du bist verletzend und undankbar. Was wir nicht alles für dich getan haben! Mutter hat ihre gesamte Zeit, ja
ihr ganzes Leben
, für dich
geopfert
. Bei jeder Entscheidung, die sie traf, hat sie nur überlegt, was das Beste für dich ist. Und jetzt wirfst du ihr genau
das
vor? Ich kann es einfach nicht glauben! Wir haben schon viel zu lange Rücksicht auf dich genommen. Und seit dem Unfall hast du doch die absolute Narrenfreiheit. Mir reicht es!“
Ich war geschockt. Ich hatte es zwar immer geahnt, dass mein Vater so dachte, aber es nun von ihm zu
hören
, war erschreckend. So hatte ich mir diese Unterredung eigentlich nicht vorgestellt. Ich musste mich zur Wehr setzen. Aber wie? War er nicht eigentlich sogar im Recht? Aber wenn schon! Es ging mir nur noch darum, aus diesem Disput als Sieger hervorzugehen, egal um welchen Preis.
„Gerade du solltest dich nicht so weit aus dem Fenster lehnen! Was hast du denn schon für eine Vorstellung von Ehe und Familie? Deine Definition dafür beschränkt sich doch auf ein Familienfoto auf deinem Schreibtisch. Du bist doch
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