Gnadenlose Gedanken (German Edition)
diesem Stillhalteabkommen gezeugt, ein Fehler, den sich mein Vater wohl nie verzeihen würde. Er hatte mich nie besonders gemocht, der einzige Vorteil meiner Geburt und meiner Existenz bestand darin, dass meine Mutter ihr ganzes Tun nun auf mich konzentrierte. Dies wiederum bedeutete für meinen Vater mehr Ruhe und die Gelegenheit, noch mehr Zeit für seine große Passion aufbringen zu können: für seinen Beruf.
Hier blühte er auf, hier konnte er sein wahres Ich ausleben. In der Kanzlei, und vor allen Dingen in den Gerichtssälen, konnte er sich und der restlichen Welt zeigen, was für ein brillanter Anwalt er war. Hier hatte er gleichwertige Gegner, hier konnte er wirklich beweisen, welche Qualitäten er besaß.
In seiner Ehe hatte er kaum eine Möglichkeit, sich zu beweisen. Denn meine Mutter gab ihm grundsätzlich Recht, sie war noch nach dem Grundsatz erzogen worden, dass ein Mann nie eine falsche Entscheidung traf, oder eine falsche Meinung hatte. Falls sich ein Mann doch einmal irren sollte, dann nur, damit es sich im Nachhinein doch noch als richtig herausstellen sollte. So war es meiner Muter beigebracht worden, und nichts und niemand hätte sie vom Gegenteil überzeugen können.
So wartete sie täglich darauf, dass ihr Gatte nach Hause kam, damit sie von ihm neue Instruktionen entgegennehmen konnte, die sie dann am folgenden Tag haargenau ausführte.
Seine Frau war also nie eine große Herauforderung für ihn gewesen. Ihre Ehe war so, als ob man bei einem Schachturnier, als Großmeister gegen einen Anfänger antreten würde. Man wusste morgens bereits, wie der Abend verlaufen würde, keine Überraschungen drohten den Ablauf zu stören.
Er hatte einmal an eine Scheidung gedacht, hatte diese Idee jedoch schnell wieder verworfen. Er befürchtete, dass eine Trennung seinem Ruf geschadet hätte. Über die Hälfte der Kollegen in der Kanzlei waren bereits geschieden, und über die wurde zu viel gelästert. Das wollte mein Vater nicht, er wollte dort nicht auffallen.
Also hatte er sich damit abgefunden, mit meiner Mutter alt zu werden. Manchmal ertappte er sich bei dem Gedanken, wie es wohl wäre, wenn sie einen tragischen Autounfall haben würde. Aber das wollte er dann doch nicht. Irgendwie hing er ja noch an ihr.
Er wurde jäh aus seinen Tagträumen gerissen.
„Glaubst du, ihm ist etwas zugestoßen?“
Diese Frage hatte sie ihm in den letzten beiden Stunden immer wieder gestellt. Sie kam so regelmäßig wie das Läuten einer Kirchturmuhr.
„Seit diesem seltsamen Anruf hat er sich nicht mehr gemeldet. Dass er aber auch sein Handy nicht mitgenommen hat! Ich mache mir solche Sorgen. Er…er klang so,…so anders. So merkwürdig.“
In den Augen meines Vaters benahm ich mich schon seit Jahren merkwürdig. Für ihn fiel schon jemand aus der Rolle, der sich nicht für den Wirtschaftsteil seiner Tageszeitung interessierte. Und dass ich während des Telefonates kein einziges Mal von Geld gesprochen hatte, beunruhigte sogar ihn. Aber das verschwieg er meiner Mutter, sonst wäre sie noch hysterischer geworden, und das hätte er einfach nicht mehr ertragen können.
„Jetzt beruhige dich doch bitte! Ich habe dir nun schon tausendmal gesagt, dass der Junge vor seinem Anruf wahrscheinlich nur zuviel von dieser Drecksbrühe getrunken hatte. Deshalb klang er vielleicht etwas anders als sonst. Er ist ja zum Glück kein Gewohnheitstrinker, und das Bier da drüben ist etwas stärker als unseres. Er wird seinen Körper überschätzt haben und das Zeug nicht vertragen haben. Und in seinem Suff hatte er dann Sehnsucht nach seiner Mami gehabt, und dir dann irgendeinen Unsinn erzählt.“
Meine Mutter konnte diese Ausführung auch nicht beruhigen. Die Erklärung hatte er ihr nun schon tausendmal gegeben, aber sie konnte es immer noch nicht glauben. Ihre mütterlichen Instinkte, die sie zu besitzen glaubte, verrieten ihr etwas anderes. Mein plötzlicher Aufbruch, der Mord an Pfarrer Hofgang ausgerechnet in meiner Wohnung, der seltsame Anruf…
Dies alles war zu viel für sie. Das wich zu sehr von ihrem gewöhnlichen Leben ab. Sie konnte nicht anders, sie machte sich Sorgen um ihr Kind.
Inzwischen wuchs die Sorge meines Vaters, er könne zu viel Zeit verlieren. Kostbare Zeit. Zeit, die er eigentlich in der Kanzlei verbringen müsste, und auch verbringen wollte. Dort fühlte er sich zu Hause, dort war er sicher. Stattdessen saß er in einem heruntergekommenen Büro und wartete auf einen Polizisten, der so
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