Gnadenthal
wochenlanges Schweigen. Und im Hintergrund die Oma, die Mutter seiner Mutter, die alles kommentierte und wenn opportun, ihrer Tochter die Stange hielt.
Der wilhelminische SA-Vater, die Trümmerfrau-Mutter, die sich nicht fügen wollte. Der Mann, der sich getäuscht und auf ganzer Linie versagt hatte, die Frau, die daraus neuen, unverhofften Selbstwert lieh. Die perfekte deutsche Hausfrau natürlich, Wäsche, Wohnung, Essen, alles tipptopp und prächtige Kinder. Aber zwei Jungen eben, und Männer schätzte seine Mutter nicht.
Sein Bruder, sieben Jahre älter als er, hatte sich so früh wie möglich vom Acker gemacht. Bis heute hatten sie fast keinen Kontakt.
Nach außen hin alles makellos, blitzblanke Fenster, die Wäsche auf der Wiese gebleicht und immer arbeitsam und fromm. Wenn jemand da war, küsste sie ihn sogar mit harten, trockenen Lippen.
Männer mochte sie schon, auf eine gewisse Weise, aber das hatte sich ihm erst erschlossen, als er erwachsen gewesen war und sich die Blitzlichtaufnahmen zu einem großen Bild gefügt hatten: wie sie sich im Elternschlafzimmer eine Unterhose anzieht und der Maklerfreund seines Vaters mit rotem, grinsendem Kopf daneben steht, wie der elsässische Vetter seines Vaters eilig das Haus verlässt, während sie am Spülbecken steht und sich untenrum wäscht, grobe Hände unter Pullovern, nestelnde Finger am Hosenschlitz.
Er blieb immer unbemerkt, er war ja nur ein Kind. Vaters Misstrauen, der Verdacht, die mächtigen, hilflosen Wutexplosionen, ihr vorwurfsvolles Leiden – warum bin ich nur so gestraft – und doch versteckter Triumph.
Macht, um etwas anderes war es nie gegangen.
Er rieb sich die Augen und griff zum Telefon, die Nummer des Pizzataxis kannte er auswendig. Dann holte er ein Set, Teller und Besteck aus der Küche und deckte den Wohnzimmertisch. Das Bier konnte warten. Gähnend und ziemlich lustlos suchte er die restlichen Fotos zusammen.
Wieder ein gemeinsamer Urlaub, die gesamte ‹13› diesmal und einige Freunde, einundzwanzig Leute, Camping in Cornwall. Es waren drei schöne Wochen gewesen, keine Dramen, kaum Missstimmungen, was sicher auch Klaus’ Verdienst gewesen war.
Es versetzte ihm einen scharfen Stich, als er in das jungenhafte, fröhliche Gesicht blickte. Klaus Schröder, Sibylles Verlobter. Klaus war der Einzige von ihnen, der nicht an der Uni Duisburg war. Er hatte in Düsseldorf Grafik und Design studiert, aber Sibylle und er waren schon zu Schulzeiten ein Paar gewesen, und als sie zur Gruppe stieß, hatte sie ihn einfach mitgebracht. So war er ihr 13. Mann geworden, das Tüpfelchen auf dem ‹i›. Eine Bereicherung, ein Geschenk, sein Einfallsreichtum hatte sogar Frieder Respekt abgerungen.
Sie mussten so im vierten oder fünften Semester gewesen sein, als die beiden, Frieder und Klaus, auf die Idee kamen, eine eigene Werbeagentur zu gründen. Keine Ahnung, woher sie das Startkapital genommen hatten, aber von Anfang an waren sie ein sehr starkes Team gewesen, Klaus das kreative Genie, Frieder der Mann fürs Geschäftliche. Schon nach ein paar Monaten fing ihr Laden an zu laufen, und Klaus hatte sein Studium abgebrochen und sich ganz auf die Firma konzentriert. Es waren harte Zeiten für ihn gewesen, vierzehn, sechzehn Stunden Arbeit pro Tag in der Agentur, die Zeit für die ‹13› hatte er sich dennoch immer abgeknappst.
Haferkamp wusste noch genau, wie sauer er gewesen war, als sie sich an diesem Freitagabend im Audimax die Beine in den Bauch gestanden hatten, weil sie ohne Klaus nicht mit den Proben anfangen konnten. Sibylle war immer wieder zur Telefonzelle gelaufen und hatte vergeblich versucht, ihn zu erreichen.
Dann waren die beiden Polizisten gekommen: mit dem Auto frontal gegen einen Brückenpfeiler, keine Bremsspuren.
An die nachfolgenden Wochen hatte er nur verschwommene Erinnerungen. Wie im Fieber hatten sie alle an der Aufführung gearbeitet. Jeden Abend bis zum Umfallen geprobt, Bettina als Ersatzfrau eingearbeitet, und Sibylle war der stärkste Motor gewesen.
Über die fehlenden Bremsspuren wurde niemals gesprochen. An die Beerdigung erinnerte er sich, als wäre es gestern gewesen.
Frieder hatte nicht dabei sein können, er war in die Geschäftsleitung einer großen Düsseldorfer Agentur aufgenommen worden und leider unabkömmlich.
Sibylle Langenberg blieb benommen mit dem Telefon in der Hand sitzen.
Das konnte nur ein Traum sein. Sat1 wollte sie als Assistentin in den Public Relations für ein neues Format! Und
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