Gnadenthal
Zwischenwände, die man eingezogen hatte, um die herrschaftlichen Säle in Fremdenzimmer zu verwandeln, schienen aus Pappe zu sein.
Er schlüpfte in Boxershorts und T-Shirt und trat auf den Gang hinaus. Die Treppe knarrte. Im Schein der Notbeleuchtung erkannte er Frieder, der, im gleichen Aufzug wie er selbst, von unten heraufkam und dabei leise in sein Handy sprach. Mit wem mochte er um diese Uhrzeit telefonieren? Als er Haferkamp ausmachte, drückte er das Gespräch weg.
«Ist was passiert?», fragte Haferkamp.
«Überhaupt nicht, nein, alles in Ordnung. Meine Süße hat nur Durst.» Er hielt eine Flasche Sprudelwasser hoch.
Haferkamp nickte knapp, öffnete die Klotür und hätte am liebsten auf dem Absatz kehrtgemacht. Im Nebenzimmer war ein Riesenkrach im Gange. Rüdiger, der sich so gern besonnen gab, brüllte wie ein Verrückter. Haferkamp hörte Dagmar wimmern und schreien und hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten.
An Schlaf war nicht zu denken, er versuchte es auch gar nicht erst: Aus einer Manuskriptseite bastelte er sich einen Aschenbecher und stellte sich rauchend ans Fenster.
Der Mond war beinahe voll, spiegelte sich fahl im Teich und schickte gespenstische Schatten in den stillen Park.
Haferkamp lehnte die Stirn an die kalte Scheibe. Sie fuhren eine Leiche spazieren. Und keiner wollte es wahrhaben.
Auf einmal war die Entscheidung klar: Dies war seine letzte Saison. Nach der Tour war für ihn Schluss, aber das würde er vorerst für sich behalten. Nur mit Kai würde er reden, er musste mit ihm reden. Kai schien für die anderen der langmütigste Mensch der Welt zu sein, aber Haferkamp wusste, wie sehr es in ihm brodelte. Patricias unverschämte Bemerkung heute Abend hatte das Fass beinahe zum Überlaufen gebracht. Er hatte es schon erlebt: Wenn Kai explodierte, war der Ausbruch meistens so gewaltig, dass er übers Ziel hinausschoss und sich dabei selbst ins Unrecht setzte. Das durfte nicht geschehen.
Das Team vom WDR, eine Redakteurin, ein Kameramann und ein Tonmensch, tauchte pünktlich um zehn Uhr auf, aber die drei stiegen zunächst nicht aus ihrem Auto aus, sondern machten erst einmal ihre gesetzlich vorgeschriebene Frühstückspause. Als sie sich endlich ans Ausladen und Vorstellen machten, wurde schnell klar, dass keiner von ihnen jemals von der «Wilden 13» gehört hatte.
Frieder tobte. «Ich habe gestern noch mit Kindermann telefoniert, und er hat mir zugesichert, dass er die Sache hier selbst übernimmt.»
«Ihm ist kurzfristig etwas dazwischengekommen», sagte die schicke Redakteurin freundlich, «aber machen Sie sich keine Sorgen, er hat mich ausführlich gebrieft. Sie sind der Herr Seidl, nicht wahr? Der Mann, der dieses Kabarett ins Leben gerufen hat. Um Sie herum wollen wir das ganze Feature aufbauen.»
Ein schlechter Start, und es wurde nicht besser.
Sie probten Martins Hartz-IV-Sketch, der am Vortag so gut gelaufen war, kamen aber nicht ein einziges Mal dazu, ihn bis zum Ende durchzuspielen, da die Redakteurin im Minutentakt die Einstellungen ändern ließ. Danach ging es an die Interviews. Die Redakteurin hatte die aparte Idee, jedem Einzelnen vor derselben Kulisse dieselben Fragen zu stellen. «Es ist ja nun doch schade, dass nicht alle dreizehn da sind, aber das kriege ich schon hin, keine Sorge.»
Dann wollte sie, quasi als Höhepunkt, die ganze Gruppe beim Mittagessen filmen. «Es wäre fein, wenn Sie alle das gleiche Gericht wählen würden, dann kommt der Klausurcharakter besser rüber.»
Zähneknirschend entschieden sie sich für den Bohneneintopf, kamen aber nicht dazu, ihn zu essen, denn auch jetzt hampelte die Dame mit verschiedenen Einstellungen herum. Um Viertel vor zwei rauschten die Fernsehleute wieder ab – schließlich mussten sie pünktlich zum Feierabend wieder in Köln sein – und ließen eine völlig entnervte und sehr hungrige ‹13› zurück.
«Ich besorge uns ein paar Sandwichs», meinte Frieder grimmig und machte sich auf den Weg, aber die Küche war abgeschlossen und nur die Rezeptionistin aufzutreiben.
«So etwas ist nicht vorgesehen. Nachmittags gibt es, wie Sie wissen, eine Kuchentafel, und die ist selbstverständlich vorbereitet.»
«Das wissen wir auch durchaus zu schätzen, gute Frau, aber nach den anstrengenden Dreharbeiten heute hätten wir doch lieber etwas Herzhaftes. Es kann doch nicht so schwierig sein, ein paar Brote zu streichen und einen Topf Suppe warm zu machen, Herrgott!»
«Tut mir Leid, dass Sie es noch nicht
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