Gnadentod
Richard Theodore Doss, sechsundvierzig, reicher Geschäftsmann aus Pacific Palisades und früherer Ehemann von Joanne Doss, einer Frau, der Dr. Mate vor fast einem Jahr Sterbehilfe leistete. Berichte über einen geplanten Auftragsmord sind bisher nicht bestätigt worden. Vor wenigen Minuten ist Doss’ Anwalt im Polizeirevier West Los Angeles eingetroffen. Wir werden Sie über die Entwicklung dieses Falls auf dem Laufenden halten. Brian Frobush für On-The-Scene-News.«
Im Hintergrund war das Gebäude zu sehen, das ich vor kurzem verlassen hatte. Das Nachrichtenteam musste nur wenige Augenblicke nach meinem Aufbruch eingetrudelt sein.
Ich drückte auf AUS. Robin setzte sich neben mich, und wir stießen an. »Prost«, sagte ich.
Ich hielt noch zehn Minuten durch, dann sagte ich ihr, es täte mir Leid, nahm den Aktenordner und ging.
Wunden.
Risse. Wirkliche Risse.
Es war bereits nach Mitternacht. Robin war vor mehr als einer Stunde eingeschlafen, und ich war ziemlich sicher, dass sie nicht gehört hatte, wie ich das Bett verlassen und mich ins Büro geschlichen hatte.
Ich hatte mit der Lektüre der Akte angefangen, aber sie war mir gefolgt, hatte mich überzeugt, ein gemeinsames Bad mit ihr zu nehmen und einen langen Spaziergang zu machen. Wir waren zu unserem Italiener nach Santa Monica gefahren. Als wir wieder zu Hause waren, hatten wir Scrabble gespielt, dann Gin Romme, bevor wir uns nebeneinander ins Bett gesetzt und gemeinsam das Kreuzworträtsel gelöst hatten.
»Wie ganz normale Leute«, hatte ich gesagt, als sie meinte, sie sei müde.
»Schauspieler. Genie.«
»Ich liebe dich - und siehst du, ich habe es gesagt, ohne vorher mit dir zu schlafen.«
»Hey, ein neues Muster.«
»Was meinst du?«
»Es vorher zu sagen. Wie nett.« Sie hatte nach mir gegriffen.
Und nun warf ich mir einen Bademantel über, ging durch das dunkle Haus und kam mir wie ein Einbrecher vor.
Ich ging ins Arbeitszimmer zurück, schaltete die Schreibtischlampe mit dem grünen Schirm ein, die einen verschwommenen Lichtstrahl auf den Ordner warf.
Es war kalt im Raum, ebenso wie im ganzen Haus. Der Bademantel war aus Frottee und stellenweise bereits abgetragen. Ich trug keine Socken, und die Kälte ergriff zunächst meine Fußsohlen und kroch hinauf bis in meine Oberschenkel. Ich sagte mir, dass dies der vor mir liegenden Aufgabe durchaus angemessen sei, zog den Ordner näher und löste den Knoten.
Fusco hatte in seiner Studie von Grant Rushton/Michael Burke auf kein Detail verzichtet.
Das gesamte Material war in der richtigen Reihenfolge sortiert, logisch gegliedert und mit drei Löchern versehen.
Es gab seitenlange Tatortbeschreibungen - sowohl Fuscos Zusammenfassungen und Analysen wie auch einige der ursprünglichen Polizeiberichte. Die Ausdrucksweise des FBI-Agenten war gewählter als die typisch hölzerne Cop-Schreibe, aber dennoch weit von Shakespeare entfernt. Er schien sich gerne ausführlich den Scheußlichkeiten zu widmen, aber vielleicht resultierte dieser Eindruck auch nur aus meiner Müdigkeit und der Kälte.
Ich las weiter und stellte fest, dass ich in ein Stadium der Überbewusstheit eintrat, während ich eine Seite Kleingedrucktes nach der anderen aufsog, Fotografien, Polaroids von Tatorten, Autopsiefotos. Die schönen, schrecklichen, grellen Schattierungen des menschlichen Körpers, entwürdigt und ausgebeutet wie ein Regenwald. Ein zerschmettertes Brustbein, ein abgeschältes Gesicht, abgezogene Haut, alles im Namen der Wahrheit.
Mate hätte das gefallen, dachte ich plötzlich.
Hatte er geahnt, was ihm bevorstand?
Ich richtete meinen Blick wieder auf die Bilder. Frauen - Dinge, die einmal Frauen gewesen waren - an Bäumen befestigt. Dann folgte eine Seite mit abdominalen Großaufnahmen, tiefen Wunden und klaffenden Schlitzen auf Haut, die sich in pflaumenfarbene, in graues Papier eingeritzte Umrisse verwandelt hatten. Präzise ausgeschnittene Wunden. Die Geometrie.
Eine plötzliche Kälte breitete sich in meiner Brust aus. Während ich einatmete und den Atem langsam entweichen ließ, studierte ich die Umrisse und versuchte mich an die Fotos von Mates Leiche zu erinnern, die Milo mir oben am Mulholland Drive gezeigt hatte.
Ich sehnte mich regelrecht nach Entsprechungen zwischen all den Abbildungen hier und den konzentrischen Quadraten, die in Mates schwabbelnden weißen Bauch geschnitten worden waren.
Es gab eine gewisse Übereinstimmung, dennoch hatte Milo Recht. Viele Mörder schneiden gern.
Kunst
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