Gnadentod
All die Jahre hatte er Medizin studiert, und trotzdem konnte er nicht in aller Öffentlichkeit praktizieren, wie Mate es tat, sondern musste Mate als Lehrling dienen.
Musste sich als Laie verkleiden, weil er seit seiner Ankunft in L. A. noch keine Möglichkeit gefunden hatte, seine medizinischen Zeugnisse zu fälschen, und sich als Finanzberater ausgeben.
Vorwiegend Immobilien, hatte er gesagt… Eine Adresse in Century City. Nett und zweideutig.
Und dann die Privatadresse in Encino, auf der anderen Seite des Berges, in einem angesehenen Viertel für einen rechtschaffenen Typen.
In L. A. konnte man von einem Lächeln und einer Postleitzahl leben.
Die Visitenkarte, die Ulrich Milo gegeben hatte, lag in einer Schublade im Polizeirevier. Ich rief die Auskunft an und fragte nach Ulrichs Geschäftsadresse in Century City, ohne besonders überrascht zu sein, als ich eine genannt bekam. Aber als ich die Nummer wählte, teilte mir eine Ansage mit, der Anschluss sei stillgelegt worden. Es gab keinen Eintrag in Encino, weder auf seinen noch auf Tanya Strattons Namen, weder irgendwo im Valley noch in der Stadt.
Tanya. Keine gesunde Frau.
Eine im Niedergang begriffene Beziehung mit Ulrich konnte sich als tödlich erweisen.
Ich sah auf die Uhr, es war kurz nach sechs. Das Licht, das durch die Vorhänge des Arbeitszimmers fiel, verriet, dass die Sonne aufgegangen war. Wenn Milo die ganze Nacht am Tatort in Glendale verbracht hatte, dann war er jetzt wahrscheinlich zu Hause, um seine wohlverdiente Ruhe zu genießen.
Manche Dinge konnten warten. Ich rief ihn an. Rick ging beim ersten Klingeln ans Telefon. »Du bist früh auf, Alex.«
»Habe ich dich geweckt?«
»Im Gegenteil. Ich war gerade dabei, zur Unfallstation aufzubrechen. Milo ist schon weg.«
»Weg wohin?«
»Hat er nicht gesagt. Wahrscheinlich wieder nach Glendale, zu diesem Doppelmord. Er war dort bis Mitternacht, ist nach Hause gekommen, hat vier Stunden geschlafen, ist mit einer üblen Laune aufgewacht, hat geduscht, ohne zu singen, und als er ging, waren seine Haare noch nass.«
»Die Freuden des häuslichen Lebens«, sagte ich.
»O ja«, sagte er. »Gib mir eine schöne Massenkarambolage auf dem Freeway, damit ich weiß, dass ich zu etwas zu gebrauchen bin.«
»Sturgis«, bellte Milo, als er den Anruf auf seinem Handy entgegennahm.
»Ich bin’s. Wo bist du?«
»Oben am Mulholland«, sagte er mit merkwürdig teilnahmsloser Stimme. »Ich starre in den Dreck und versuche herauszufinden, ob ich was übersehen habe.«
»Mein Sohn, ich werde etwas Freude in dein erbärmliches Leben bringen.« Ich erzählte ihm von Ulrich.
Ich erwartete, dass er schockiert reagierte oder fluchte, aber seine Stimme blieb distanziert. »Seltsam, dass du davon sprichst.«
»Du bist von selbst drauf gekommen?«
»Nein, aber ich habe gerade über Ulrich nachgedacht. Weil ich meinen Wagen an der Stelle abgestellt habe, wo der Lieferwagen stand, und selbst den Tatort abgegangen bin. Als die Sonne aufging, schien sie auf das Rückfenster und wurde von ihm reflektiert. So stark, dass es blendete, ich konnte absolut nichts in meinem Wagen erkennen. Ulrich hat behauptet, er und die Frau hätten Mate unmittelbar nach Sonnenaufgang entdeckt, und gesagt, er hätte Mates Leiche durch das Rückfenster sehen können. Das ist zwar eine Woche her, und die Fenster des Lieferwagens sind höher als meine, aber meiner Berechnung nach ist es kein so großer Unterschied, und ich kann mir nicht vorstellen, dass der Einfallswinkel der Sonne sich so stark verändert hat. Ich wollte noch eine Weile warten, um zu sehen, ob sich die Sichtverhältnisse innerhalb der nächsten Viertelstunde oder so ändern. An sich war das nichts Besonderes, vielleicht hat der Typ sich nicht mehr an jedes Detail erinnert. Aber jetzt erzählst du mir … Ich habe die Adresse von dem Mistkerl im Revier gelassen, deshalb lasse ich beim Zentralregister eine Anfrage unter seinem Namen und dem seiner Freundin durchlaufen. Zeit, ihnen einen Besuch abzustatten.«
»Seine Freundin könnte in Gefahr sein.« Ich sagte ihm, warum.
»Krank?«, fragte er. »Ja, sie sah nicht sehr gesund aus, nicht wahr? Ein Grund mehr für einen Besuch.«
»Wie willst du Ulrich gegenüber vorgehen?«
»Ich habe nicht wirklich etwas in der Hand, um ihn festnehmen zu können, Alex. Im Moment kann ich ihn lediglich in seiner normalen Umgebung unter die Lupe nehmen - es wird so ablaufen, dass ich routinemäßig hereinschneie, um noch einmal
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