Gnadentod
einfach mein Leben genießen?«
»Genau.«
»Genau«, wiederholte sie. »Einfach Spaß haben.« Tränen stiegen ihr in die Augen. Ich gab ihr ein Papiertaschentuch, das sie nahm, zerknüllte und mit ihrer zierlichen, elfenbeinernen Faust umschloss.
»Reden wir«, sagte sie, »über meine Mutter.«
Sie kam dreizehn Mal zu mir. Vier Wochen lang zweimal pro Woche, dann fünf wöchentliche Sitzungen. Sie war pünktlich, kooperativ, füllte die erste halbe Stunde jeder Sitzung mit nervösem Geplapper über Filme, die sie gesehen, Bücher, die sie gelesen hatte, die Schule und Freundinnen. Sie hielt sich das Unvermeidliche zunächst vom Leib, bis sie schließlich nachgab. Auf eigenen Wunsch, ohne einen Anstoß meinerseits.
Die letzten zwanzig Minuten jeder Sitzung waren reserviert für ihre Mutter.
Es gab keine Tränen mehr, nur leise Monologe, voller Pflichtbewusstsein. Sie war sechzehn gewesen, als der Zerfall ihrer Mutter begann, und sie erinnerte sich daran, wie ihr Vater, als schleichend, heimtückisch und am Ende grotesk.
»Ich habe sie angesehen, und sie lag einfach da. Passiv - sie war schon vorher immer irgendwie passiv gewesen. Immer hat sie meinen Vater alle Entscheidungen treffen lassen - sie hat das Essen zubereitet, aber er hat entschieden, was auf den Tisch kam. Sie war eigentlich eine ziemlich gute Köchin, aber es schien für sie nie eine große Rolle zu spielen, was sie kochte. Als wäre es ihr Job, und sie würde ihn erledigen, und zwar gut, aber sie tat niemals so, als wäre sie … begeistert davon. Einmal, Vor Jahren, stieß ich auf diese kleine Schachtel mit Speisekarten, in die sie all diese Menüvorschläge gelegt hatte, Sachen, die sie aus Zeitschriften ausgeschnitten hatte. Also hat es offenbar einmal eine Zeit gegeben, in der es für sie eine Rolle gespielt hat. Aber das muss vor meiner Zeit gewesen sein.«
»Also hatte Ihr Dad alle Meinungen in der Familie in der Hand«, sagte ich.
»Dad und Eric.«
»Sie nicht?«
Lächeln. »Oh, ich habe auch ein paar, aber ich behalte sie eher für mich.«
»Warum das?«
»Ich habe gemerkt, dass das eine gute Strategie ist.«
»Zu welchem Zweck?«
»Um ein angenehmes Leben zu haben.«
»Schließen Eric und Ihr Vater Sie aus?«
»Nein, überhaupt nicht - jedenfalls nicht mit Absicht. Es ist nur so, dass die beiden diese … nennen wir es einfach eine echte Männerfreundschaft haben. Zwei große Geister, die nebeneinander her jagen. Da mitzumachen wäre so, als würde ich versuchen, auf einen fahrenden Zug zu springen - gute Metapher, oder? Vielleicht sollte ich sie mal im Englischunterricht einsetzen. Mein Lehrer ist ein richtig arroganter, hochnäsiger Typ, der auf Metaphern steht.«
»Also ist es gefährlich, sich zu beteiligen«, sagte ich.
Sie legte einen Finger an die Unterlippe. »Es ist nicht so, dass sie mich zurückweisen … Ich glaube, ich will nicht, dass sie mich für blöd halten … Sie sind einfach … sie sind ein Paar, Dr. Delaware. Wenn Eric zu Hause ist, ist es manchmal so, als wäre Dad in doppelter Ausführung da.«
»Und wenn Eric nicht zu Hause ist?«
»Was meinen Sie damit?«
»Wie kommen Sie und Ihr Vater miteinander aus?«
»Ganz gut, er ist nur häufig unterwegs, und wir haben verschiedene Interessen. Er ist Sammler, und für das Anhäufen irgendwelcher Sachen habe ich nichts übrig.«
»Was sammelt er?«
»Zunächst waren es Gemälde - kalifornische Kunst. Die hat er dann mit einem Riesengewinn verkauft und sich auf chinesisches Porzellan gestürzt. Im ganzen Haus stehen sämtliche Wände voll mit dem Zeug. Han-Dynastie, Sung-Dynastie, Ming-Dynastie, was auch immer. Ich habe durchaus Verständnis dafür, diese Dinge sind wunderschön. Ich will sie nur nicht anhäufen. Ich schätze, das macht ihn zu einem Optimisten, Porzellan in einer Erdbegengegend zu kaufen. Er kittet es mit diesem Wachs fest, das die Museen benutzen, aber trotzdem. Wenn das große Beben kommt, ist unser Haus eine einzige große Geschirr-Katastrophenzone.«
»Wie hat die Sammlung das letzte Erdbeben überstanden?«
»Damals hatte er sie noch nicht. Er hat erst damit angefangen, als Moms Krankheit ausgebrochen ist.«
»Glauben Sie, da besteht eine Verbindung?«, sagte ich. »Inwiefern?«
»Zwischen dem Sammeln von Porzellan und der Krankheit Ihrer Mutter.«
»Warum sollte da - oh, ich verstehe. Sie konnte mit ihm nichts mehr zusammen unternehmen, also lernte er, sich auf eigene Faust zu amüsieren. Ja, vielleicht. Wie ich schon
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