Gnadentod
gekommen ist. Sie ist in einen Baum gekracht und war tot, einfach so.« Sie schnippte mit ihrem entzündeten Finger. »Die ganze Familie war dabei. Das ist traumatisch. Meine Mutter … Ich wusste, dass es passieren würde. Ich habe mich lange Zeit gefragt, wann, aber …«Ihre Brüste hoben und senkten sich, während sie mit einem Fuß auf den Boden tippte. Der rechte Zeigefinger suchte erneut die wunde Stelle, krümmte sich zum Angriff, kratzte und zog sich wieder zurück.
»Vielleicht sollten wir lieber über meine so genannte Zukunft reden«, sagte sie und hielt das grüne Buch in die Höhe. »Könnte ich vorher bitte auf die Toilette gehen?«
Sie war zehn Minuten verschwunden. Nach sieben begann ich mir Gedanken zu machen und war kurz davor aufzustehen und nachzusehen, ob sie das Haus verlassen hatte, als sie schließlich zurückkam. Sie hatte ihr Haar zu einem buschigen Pferdeschwanz zurückgebunden, und ihr Mund glänzte von frisch aufgetragenem Lipgloss.
»Okay«, sagte sie. »College. Das Verfahren. Meine Ziellosigkeit.«
»Das klingt wie etwas, das jemand zu Ihnen gesagt hat.«
»Dad, mein Berater an der Schule, mein Bruder, alle. Ich bin beinahe achtzehn, praktisch im letzten Jahr, also sollte ich mich darum kümmern - über Berufsvorstellungen nachdenken, Listen mit außerschulischen Aktivitäten zusammenstellen, einen Lebenslauf verfassen, in dem ich mit meinen Errungenschaften angebe. Bereit sein, mich zu verkaufen. Es kommt mir so … unecht vor. Ich gehe auf die Pali Prep, wo alle völlig durchdrehen, wenn es ums College geht. In meiner Klasse flippt jeder mindestens einmal am Tag aus. Weil ich das nicht tue, denken sie, ich sei eine Außerirdische.« Mit ihrer freien Hand blätterte sie die Seiten des grünen Buchs um.
»Können Sie sich nicht dazu aufraffen?«, fragte ich.
»Ich habe keine Lust, mich dazu aufzuraffen. Es interessiert mich ehrlich nicht, Dr. Delaware. Ich meine, ich weiß, dass ich am Ende auf irgendein College gehen werde. Macht es wirklich einen Unterschied, wo das ist?«
»Macht es keinen?«
»Für mich nicht.«
»Aber alle sagen Ihnen, Sie sollen sich darum kümmern.«
»Entweder ausdrücklich oder, Sie wissen schon - es liegt in der Luft. Die Atmosphäre. In der Schule geht eine Trennungslinie ziemlich genau durch die Mitte - soziologisch gesehen. Entweder du bist ein Dummkopf und weißt, dass du an einer Party-Uni landen wirst, oder du bist ein Streber, und es wird von dir erwartet, dass du dich in Standford und an den Ivy-League-Unis bewirbst. Ich sollte ein Streber sein, weil meine Noten ganz gut sind. Ich sollte meine Nase ins Vorbereitungsbuch für die SP stecken und Bewerbungsformulare ausfüllen.«
»Wann wollen Sie die Standardprüfung ablegen?«
»Das habe ich schon getan. Im Dezember. Das haben wir alle gemacht, nur zur Übung. Aber mein Ergebnis war gar nicht schlecht, und ich sehe nicht ein, warum ich sie noch mal machen soll.«
»Wie war Ihr Ergebnis?«
Sie wurde wieder rot. »Fünfzehnhundertzwanzig.«
»Das ist ein fantastisches Resultat«, sagte ich.
»Sie wären überrascht. Auf der Pali Prep machen Schüler mit einer Punktzahl von fünfzehnhundertachtzig den Test noch mal. Einer hat seine Eltern bestätigen lassen, dass er indianischer Herkunft sei, damit er irgendwelche Sonderpunkte als Angehöriger einer Minderheit bekommt. Ich sehe nicht ein, was das soll.«
»Ich auch nicht.«
»Wenn man den Schülern der letzten Klasse das Angebot machte, dass sie garantiert in Harvard, Stanford oder Yale zugelassen würden, wenn sie jemanden umbrächten, dann würden die meisten es annehmen, das glaube ich ganz ehrlich.«
»Ziemlich brutal«, sagte ich, fasziniert von dem Beispiel, das sie gewählt hatte.
»Die Welt da draußen ist brutal«, sagte sie. »Zumindest erzählt mir mein Vater das immer wieder.«
»Möchte er, dass Sie den Test wiederholen?«
»Er tut so, als wollte er keinen Druck auf mich ausüben, aber er hat mich wissen lassen, dass er die Gebühr übernimmt, wenn ich es will.«
»Was eine Art von Druck ist.«
»Vermutlich. Sie haben ihn kennen gelernt … Wie war das?«
»Wie meinen Sie das?«
»Sind Sie miteinander ausgekommen? Er hat mir erzählt, Sie seien klug, aber da war etwas in seiner Stimme - als wäre er sich bei Ihnen nicht ganz sicher.« Sie lachte. »Ich habe ein großes Mundwerk … Dad ist superaktiv, er muss immer in Bewegung bleiben, denken, irgendwas tun. Moms Krankheit hat ihn wahnsinnig gemacht. Bevor sie
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