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Gnadentod

Gnadentod

Titel: Gnadentod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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im Geringsten. Sie hat kein einziges Wort zu mir gesagt, hat sich nicht von mir verabschiedet. An jenem Morgen hat sie mich zu sich gerufen, bevor ich zur Schule ging. Sie hat gesagt, ich sähe hübsch aus. Das hat sie manchmal getan, daran war nichts Besonderes. Sie sah aus wie immer. Erloschen - in Wahrheit hatte sie sich zu diesem Zeitpunkt bereits selbst ausradiert, als Mate ins Spiel kam. Die Medien wollen einen immer glauben machen, dass er etwas tut, aber das stimmt nicht. Nicht, wenn die anderen Leute so waren wie meine Mom. Er hat nicht das kleinste bisschen getan. Da war nichts mehr, was er noch hätte tun können. Sie wollte nicht mehr sein.«
    Meine Hand war bereit für einen Griff in die Schachtel mit den Papiertüchern. Stacy richtete sich auf, stellte ihre Füße auf den Boden und setzte sich gerade hin.
    »Die ganze Geschichte ist unglaublich traurig, Dr. Delaware.«
    Da war sie wieder, diese klinische Distanziertheit der ersten Sitzung. »Ja, das ist sie.«
    »Sie war brillant, zwei Doktortitel, sie hätte den Nobelpreis gewinnen können, wenn sie gewollt hätte. Daher hat Eric seinen Grips. Mein Vater ist ein intelligenter Mann, aber sie war ein Genie. Ihre Eltern waren auch brillant. Sie waren Bibliothekare und haben nie viel Geld verdient, aber sie waren brillant. Beide sind jung gestorben. An Krebs. Vielleicht hatte meine Mutter Angst davor, auch jung zu sterben. Ob sie Angst vor Krebs hatte, weiß ich nicht. Sie hat Becky Manitow in Algebra von einer Vier auf eine Zwei gebracht. Als Becky nicht mehr zu ihr zum Nachhilfeunterricht gegangen ist, ist sie wieder auf eine Vier abgerutscht.«
    »Hat Becky damit aufgehört, weil Ihre Mutter krank war?«
    »Ich glaube schon.«
    Langes Schweigen. Noch eine Minute. »Unsere Zeit ist um, nicht wahr?«, sagte sie. »Noch nicht ganz«, sagte ich.
    »Nein. Regeln sind dazu da, eingehalten zu werden. Vielen Dank für all Ihre Hilfe, ich komme ziemlich gut zurecht. Gemessen an den Umständen.« Sie griff nach ihren Büchern.
    »Gemessen an den Umständen?«
    »Man kann nie wissen«, sagte sie. Dann lachte sie. »Oh, machen Sie sich keine Sorgen um mich. Mir geht’s prima. Was bleibt mir anderes übrig?«
    Während der letzten paar Sitzungen war sie von Anfang an bereit, über ihren Kummer zu reden. Mit trockenen Augen, ernst, ohne Themenwechsel, ohne Abschweifungen in Banalitäten, ohne Ausweichmanöver.
    Sie strengte sich an.
    Sie sehnte sich danach zu verstehen, warum ihre Mutter sie verlassen hatte, ohne sich zu verabschieden, obwohl sie wusste, dass einige ihrer Fragen nie beantwortet werden konnten.
    Trotzdem fragte sie. Warum ihre Familie? Warum sie?
    War ihre Mutter überhaupt krank gewesen? War alles psychosomatisch gewesen, wie Dr. Manitow behauptet hatte - das hatte sie ihn zu seiner Frau sagen hören, als die beiden nicht wussten, dass sie in Hörweite war. Richterin Manitow hatte gesagt: Ach, ich weiß auch nicht, Bob. Und er hatte geantwortet: Glaub mir, Judy, in physischer Hinsicht ist alles mit ihr in Ordnung - es ist ein langsamer Selbstmord.
    Stacy, die vom Badezimmer neben der Küche aus zugehört hatte, war wütend auf ihn gewesen, rasend vor Wut. Was für ein Dreckskerl, wie konnte er so etwas behaupten.
    Aber dann hatte sie selbst begonnen sich Gedanken darüber zu machen, weil die Ärzte nie etwas finden konnten. Ihr Vater sagte immer, Ärzte wüssten nicht alles, sie wären nicht so schlau, wie sie dachten. Dann brachte er sie plötzlich zu keinen Untersuchungen mehr. Bewies das nicht, dass sogar er glaubte, es könnte an Moms Kopf liegen? Man sollte doch annehmen, dass sich bei irgendeiner Untersuchung irgendetwas herausstellen würde …
    Während der elften Sitzung redete sie über Mate.
    Sie war nicht wütend auf ihn, so wie ihr Dad es war. Wie Eric es war. Das war alles, was die beiden tun konnten, wenn sie mit etwas konfrontiert wurden, das sie nicht unter Kontrolle hatten. Wütend darauf werden. Typische Männerreaktion, stocksauer werden, es zerquetschen wollen.
    »Ihr Vater will Mate zerquetschen?«, fragte ich.
    »Das ist rein rhetorisch. Das sagt er über alles, was ihm nicht gefällt - wenn ein Kerl versucht, ihn bei einem Geschäft übers Ohr zu hauen, sagt er im Scherz, er wolle ihn pulverisieren, ihn vom Planeten wischen, diese Art Macho-Blödsinn.«
    »Was halten Sie von Mate?«
    »Ich finde ihn erbärmlich. Ein Verlierer. Mom hätte aufgehört zu sein, egal, ob mit ihm oder ohne ihn.«
    Zu Beginn der zwölften Sitzung

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