Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gnadentod

Gnadentod

Titel: Gnadentod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
Vom Netzwerk:
konzentrieren konnte. Seltsam, dass seine Mutter nichts über eine besondere Begabung gesagt hat. Aber andererseits wollte sie eigentlich überhaupt nicht über ihn reden.«
    »Ich hab sie in dem Motel angerufen. Sie hat gestern ausgecheckt. Glaubst du, Donny hat gemalt, wie man Daddy aufschneidet, und sich dann vielleicht entschlossen, die Szene nachzuspielen?«
    »Die Gemälde könnten einen weiteren Versuch zur Kontaktaufnahme mit Daddy darstellen. Vielleicht hat er sie Mate gezeigt, und der hat ihm wieder eine Abfuhr erteilt.«
    »Warum sollte er das Gemälde zu der Galerie bringen?«
    »Er ist ein Künstler. Er sehnt sich nach Anerkennung. Und sieh dir das Bild an, das er abgeliefert hat. Alle anderen waren richtige Portraits von Mate. Auf Die Anatomie des Dr. Tulp liegt Mate auf dem Seziertisch.«
    »Seht her, was ich mit Daddy angestellt habe. Er brüstet sich damit.«
    »Genau wie die Notiz. Und das kaputte Stethoskop.«
    »Auf der anderen Seite«, sagte er, »könnte Tollrance auch nur ein weiterer hungernder Künstler sein, und das hier ist ein reiner Publicity-Gag - er benutzt den Mord an Mate dazu, seiner toten Karriere etwas Leben einzuhauchen. Falls das dahinter gesteckt hat, hat es funktioniert - er steht auf der Titelseite und macht mir das Leben schwer. Wenn er morgen mit einem Agenten und einem PR-Mann im Fernsehen auftaucht, kannst du diesen ganzen psychologischen Schnickschnack vergessen.«
    »Vielleicht«, sagte ich. »Schließlich sind wir hier in L. A. Aber wenn er nicht auftaucht, sagt das auch etwas aus.«
    Er schwieg einen Moment lang. »In der Zwischenzeit liegt das Gemälde in unserer Asservatenkammer. Möchtest du es gerne sehen?«
    »Na klar«, sagte ich. »Gegenständliche Kunst ist mein Ding.«

17
    »Nicht schlecht, aber kein Rembrandt«, sagte ich.
    Milo strich mit einem Finger über die Leinwand. Wir befanden uns im Morddezernat, das im ersten Stock des Polizeireviers West L. A. untergebracht ist. Ein halbes Dutzend Detectives saßen über ihre Schreibtische gebeugt, während ein paar andere aus dem Augenwinkel zu uns herüberstarrten, als Milo das Gemälde auf seinem Stuhl platzierte.
    Zero Tollrances Meisterwerk war ganz in Braun- und Schwarztönen und gedämpftem Licht gehalten, nur eine winzige Spur von Rosa an der Stelle, wo der linke Arm des Mannes auf dem Seziertisch zu Sehnen und Bändern reduziert worden war.
    Der Leichnam hatte das verkniffene, weiche Gesicht Eldon Mates. Sogar Tollrances mittelmäßiges Talent machte das deutlich. Sieben Männer mit extravaganten Gewändern, Halskrausen und Ziegenbärten standen um den Seziertisch herum und sahen mit akademischer Distanziertheit auf die Leiche hinab. Der Pathologe - ein weiterer Mate - war in ein schwarzes Gewand mit weißem Spitzenkragen gehüllt und trug einen hohen schwarzen Hut. Er hatte einen gelangweilten Gesichtsausdruck, während er den aufgeschnittenen Arm mit einem Skalpell sondierte.
    Im Original hatte das Genie des Künstlers von der Grausamkeit der Szene abgelenkt, Tollrances Karikatur hingegen unterstrich sie noch. Zornig wirbelnde Pinselstriche, dicker Farbauftrag bis hin zum Impasto, scharfe Farbspitzen, die von der Oberfläche der kleinen Leinwand von einundsechzig mal sechsundvierzig Zentimetern hervorstachen. Ich hatte ein weitaus größeres Format erwartet.
    Sollte Mate damit auf seine wahre Größe reduziert werden?
    Milo hob einen Stapel Telefonnachrichten hoch und ließ sie wieder auf den Schreibtisch fallen. »Kugler, der Galerist, hängt mir schon den ganzen Tag am Rockzipfel. Ganz plötzlich steht er auf Realismus.«
    »Er hat wahrscheinlich ein Angebot bekommen«, sagte ich. »Von demselben Typen, der für ein blaues Kleid mit Flecken hohe Summen auf den Tisch legt.«
    Telefone klingelten, Tasten klickten, jemand lachte. Der Raum roch nach verbranntem Kaffee und Turnhallenschweiß. »Ein paar Skandal-Talkshows wollen auch mit mir reden. Und heute früh um sechs ist ein Memo von den Bossen eingegangen, in dem sie mich daran erinnern, den Mund zu halten.«
    »Tollrance hat sich ebenfalls ein Stückchen Berühmtheit erkauft«, sagte ich. »Ich frage mich, wie lange ihn das zufrieden stellen wird.«
    »Soll das heißen, er wird wahren Realismus wollen?«
    Ich zuckte mit den Schultern.
    »Na ja«, sagte er, »bisher sind ihm keine Fehler unterlaufen.« Er tippte mit dem Finger an die Oberkante des Gemäldes. »Kein einziger Fingerabdruck. Vielleicht hast du Recht, ein vorsichtiger Spinner.« Er

Weitere Kostenlose Bücher