Gnosis
jemand anderen zu finden», sagte Darian. «Jemand Stärkeres.»
«Hier gibt es nichts zu verhandeln, Darian», sagte Zinser. «Ich kann Ihnen nicht mehr trauen.»
«Aber ich soll Ihnen trauen?»
«Denken Sie heute Nacht darüber nach. Sie können mir Ihren Entschluss morgen früh mitteilen.»
Zinser gab dem Wachmann ein Zeichen, dass er die Tür aufmachen sollte. Sobald sie draußen war, schob sie eine Klappe vor das kleine Fenster. Zwei Sekunden später ging das Licht aus, und Darian lag in absoluter Finsternis. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie noch nie allein im Dunkeln gewesen war – denn Darian Washington war niemals allein.
Immer waren da Gefühle gewesen, die sie trösteten, wenn sie die Augen schloss, das Flackern anderer Ichs, die sich an ihre Haut schmiegten. Doch jetzt war da gar nichts. Kein einziges Gefühl. Darian holte tief Luft und versuchte, sich zu beruhigen.
Du bist allein. Ganz allein. Ganz a-
- AUFHÖREN! Konzentrier dich aufs Atmen: Ein … Aus … Ein … Aus.
Allein in der Finsternis. Im Nichts. Wie lebendig begraben. Oder tot. So musste wohl der Tod sein. Ewiges Nichts. Nichts zu sehen, nichts zu hören, nichts zu fühlen. Nur leere Dunkelheit. Ganz allein …
- Meine Güte, ich bin vierundzwanzig! Ich kann doch wohl ein paar Stunden allein im Dunkeln liegen.
Aber was war, wenn es nicht nur um ein paar Stunden ging? Was war, wenn daraus Tage wurden? Oder Wochen? Oder MONATE? Was … was, wenn daraus JAHRE wurden? Was …
- Ich kann das. Ich kann das. Ich kann …
Wem willst du eigentlich was vormachen? Das waren noch keine fünf Minuten, und du drehst schon fast durch! Was meinst du, was nach ein paar Tagen los ist? Was, wenn das von jetzt an alles ist? Allein im Dunkeln. Abgeschottet von der Welt. Absolut mutterseelenallein. Für immer. Und ewig. Und ewig …
Da hörte Darian ein Geräusch. Ein lautes Wimmern wie von einem verwundeten Tier. Sie brauchte ein paar Sekunden, bis sie merkte, dass das grausige Geheul aus ihrer eigenen Kehle kam. Und dann fing sie an zu schreien. Sie wusste nicht, wie lange. Sie wusste nur, dass niemand kam.
Und das Nichts breitete sich aus – bis in alle Ewigkeit.
KAPITEL 31
Als sie mit dem Frühstück fertig waren, führte Roger sie zum Klassenraum – allerdings nicht gerade ein weiter Weg. Obwohl die Anlage ziemlich groß war, spielte sich für Elijah und Winter alles in einer Ecke von Ebene 1 ab.
Als sie in die Klasse kamen, war Elijah schwer enttäuscht. Es war ein ganz normaler Klassenraum – Kreidetafel, Lehrerpult, kleine Holztische und Stühle. An den Wänden hingen Landkarten und Bilder von historischen Persönlichkeiten. Merkwürdig war nur, dass es keine Fenster gab.
Wie in allen anderen Räumen der Anlage gab es auch hier kein einziges Fenster. Dafür bestand eine der Wände aus halbdurchlässigem Plexiglas, das von hinten beleuchtet wurde. Instant-Sonne aus der Steckdose. Elijah und Winter suchten sich Plätze nebeneinander in der Mitte des Raumes. Mit den vielen leeren Tischen im Klassenzimmer kamen sie sich vor, als müssten sie nachsitzen.
Sie wollten sich gerade setzen, da ging die Tür auf, und eine Frau trat ein. Sie war groß und hübsch, schlicht gekleidet, mit weißer Bluse, dunkelblauem Blazer und passendem Rock. Genau wie Roger machte sie einen ausgesprochen glücklichen und gutmütigen Eindruck – satte Blautöne, durchzogen von hellroten Streifen.
«Guten Morgen», sagte sie und trat vor die Tafel. «Mein Name ist Samantha Zinser. Ich bin die Leiterin der Oppenheimer School. Ich bin gekommen, um euch willkommen zu heißen und zu erklären, was wir vorhaben und was von euch erwartet wird.»
Sie ging um das Lehrerpult herum und setzte sich, indem sie die langen Beine übereinanderschlug. «Hier geht es sehr zwanglos zu. Solltet ihr also Fragen haben, zögert nicht, sie mir zu stellen.»
Eilig hob Elijah seine Hand – er kam sich etwas blöd vor, aber er wollte Miss Zinser nicht einfach unterbrechen.
«Du musst dich nicht melden, Elijah. Was liegt dir auf der Seele?»
«Wird uns Mr. Kuehl hier unterrichten?»
Miss Zinsers Lächeln kam ins Wanken, ihre Farben veränderten sich allerdings nicht. «Mr. Kuehl arbeitet momentan an anderen Projekten, aber ich denke, ihr werdet ihn demnächst schon wiedersehen.»
«Was ist mit Miss Washington?», fragte Winter.
Diesmal kam Miss Zinsers Lächeln nicht ins Wanken, aber es verhärtete. Noch der letzte Hauch von Freundlichkeit verschwand aus ihren Augen.
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