Gnosis
telefonieren. Zum Glück hat mein Dad die Zahl der Gespräche auf einmal täglich beschränkt.»
«Ja, mit meiner Mom ist es genau dasselbe.» Winter schwieg einen Augenblick. «Du hast ihr doch nichts erzählt von … du weißt schon?»
«Nie im Leben. Ich mag es hier. Wenn sie die Wahrheit rausfinden, würde mein D-d-dad das nächstbeste Flugzeug nehmen und mich nach Hause holen.»
Der Kellner kam und stellte Winters Eier auf den Tisch. Sie dippte ein Stück Toast ins Eigelb und probierte. Perfekt. Zu Hause gab es zum Frühstück immer nur Cornflakes und solche Sachen. Bei Oppenheimer war es wie in einem Hotel.
Sie nahm einen Schluck Orangensaft und meinte: «Was glaubst du, wieso Jill nicht mit uns isst?»
«Die entscheidende Frage ist doch, wieso sie nicht in unserem Trakt wohnt.»
Winter zuckte mit den Achseln.
«Also …», fuhr Elijah fort, «… ich verstehe das nicht. Geht sie jetzt mit uns zur Schule oder nicht?»
«Ich würde sagen: oder nicht.»
«Ich auch. Aber warum? Meinst du, es liegt daran, dass sie älter ist?»
«Nein», sagte Winter und schluckte etwas glibberiges Eiweiß herunter. «Ich glaube, es hat damit zu tun, dass sie anders ist als wir.»
«Du meinst: stärker?»
«Hörst du es auch?», fragte Winter.
«Ich sehe es», korrigierte Elijah.
Winter nickte. Es war schon komisch. Sie konnte sich nicht vorstellen, jedes Mal in farbigem Dunst zu stehen, wenn sie jemanden ansah. Für sie war es normal, das Lied eines Menschen zu hören, wenn seine Gefühle die Tonleiter rauf und runter tanzten.
«Vielleicht haben die mit ihr andere Pläne», dachte Elijah laut.
Winter kniff die Augen zusammen. «Was meinst du mit Pläne?»
Elijah beugte sich vor und sprach mit leiser Stimme. «Du weißt schon. Zielsetzung. Strategie. Hintergedanken. Die müssen doch noch irgendwas anderes vorhaben. Die wollen doch nicht nur G-g-gutes tun, oder? Ich meine, wozu sollten die das alles machen?»
«Was alles?», fragte Winter, die sich etwas blöd vorkam.
«Das alles», flüsterte Elijah und machte eine kurze Kopfbewegung. «Das Essen. Unsere Zimmer. Es ist alles z-z-zu viel. Die wollen irgendwas. Von uns.»
Plötzlich war Winter nicht mehr nach Frühstück zumute. «Wie lange denkst du das schon?», fragte sie und sprach jetzt auch leiser.
«Ein p-p-paar Tage», sagte Elijah. «Versteh mich nicht falsch. Ich finde es toll hier. Aber mein Dad sagt immer: Niemand lädt dich umsonst zum Essen ein. Deshalb glaube ich, dass Miss Zinser uns etwas verschweigt.»
«Zum Beispiel, worin Mr. Kuehls und Miss Washingtons Job besteht.»
«Genau.»
Im Augenwinkel sah Winter den Kellner, der gleich hinter ihnen stand. Ihr wurde kalt, und sie tastete nach seinen Emotionen, nahm jedoch nur dieses tiefe, angenehme Tönen wahr, das sie von allen Angestellten hörte. Als sie den Mann anstarrte, fiel ihr Blick auf die Uhr über seinem Kopf – noch drei Minuten bis zum Unterricht. Er stand dort nur, weil er wartete, dass sie ihr Frühstück beendeten. Elijah machte sie noch ganz verrückt.
Sie schob ihren Teller von sich und stand auf. «Komm schon. Wir sind spät dran.»
Ohne zu warten, drehte sie sich um und ging hinaus. Sie versuchte, nicht daran zu denken, was Elijah gesagt hatte – obwohl sie wusste, dass er recht hatte.
Samantha Zinser spulte das Video zurück und spielte das Gespräch zwischen Elijah und Winter noch einmal ab.
Das hat nicht lange gedauert.
Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. Elijah war begabt. Er durchschaute, dass diese Schule nur eine Illusion war. Seltsam, dass Darian über ein Jahr gebraucht hatte, um zu demselben Schluss zu kommen wie Elijah nach zwei Wochen.
Doch Zinser hätte es wissen müssen – Elijah war ein pubertierender Science-Fiction-Fan. Wahrscheinlich vermutete er hinter jeder Ecke eine Verschwörung. Leider war diese real. Ihr blieb nur eine Möglichkeit: Jill.
Sie hatte Darian benutzt, um Jill zu bekommen. Sie hatte Jill benutzt, um Laszlo zu bekommen. Jetzt würde sie das Mädchen benutzen, um Elijah und Winter auf ihre Seite zu bringen. Sie hatte Jill so weit wie möglich heraushalten wollen, doch das schien nun unmöglich.
Aber das machte nichts. Aus Jill würde ohnehin nie die werden, die sie hier brauchten. Sie war viel zu kaputt. Anfangs hatte Zinser es als glückliche Gelegenheit begriffen, dass Pater Sullivan das Mädchen festgehalten hatte – schließlich hatte sie geglaubt, nach diesem Leidensweg wäre es kein Problem, Jill zu bekehren.
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