Gnosis
Doch diese Annahme hatte sich als falsch erwiesen.
Nachdem man ihr beigebracht hatte, die Bibel als Gottes Wort zu sehen, war Jill nicht zu bewegen, sich auf die moralischen Mehrdeutigkeiten der realen Welt einzulassen. Am ehesten wäre sie der Organisation kurzfristig von Nutzen – indem sie dafür sorgte, dass die neuen Rekruten ihren Zweck erfüllten. Nichts war von größerer Bedeutung als dieser Zweck. Und wenn der Plan des Vorstands aufging, wäre nichts und niemand diesem Zweck dienlicher als diese beiden Kinder und die anderen, die ihnen folgen sollten.
Mit genügend positiver, emotionaler Unterstützung müsste man den Kindern die Überzeugungen der Organisation eigentlich eintrichtern können. Wenn Jill die Kinder manipulierte, würde sie möglicherweise misstrauisch werden. Dennoch – es war die Sache wert.
Möglich war auch, dass Zinser sich irrte, dass Jill sich durch ihre Aufgabe der Organisation noch verbundener fühlen würde. Doch das war Wunschdenken, und Zinser wusste es. Wahrscheinlich würde das Ganze viel eher den Countdown in Gang setzen.
Und falls etwas schiefging, würde Jill sterben müssen – bevor sie echten Schaden anrichten konnte. Zinser müsste also schleunigst einen engeren, persönlichen Kontakt zu den anderen Kindern herstellen. Sie war nicht sicher, wie sie das mit Elijah anstellen sollte. Aber für Winter hatte sie schon eine vorzügliche Idee.
KAPITEL 33
Laszlo fuhr zu Darians Wohnung, um ihre Sachen zu ordnen, aber es gab nichts, was er behalten wollte. Sie hatte schöne Dinge besessen, doch nur unpersönliches, teures Spielzeug. Nichts, was daran erinnerte, wie sie wirklich gewesen war.
Die nächsten Tage verbrachte er wie in Trance, konnte an nichts anderes denken als an Darian und die Organisation. Gern wäre er wieder hingefahren, aber er konnte nicht. Er verdiente es nicht, dort zu sein – er verdiente es, allein zu sein. Und nachdem Darian nun tot war, würde er sein Leben lang allein bleiben.
Sein einziger Trost war die Gewissheit, dass er Elijah und Winter ein Leben in Einsamkeit erspart hatte. Er überlegte, ob er sie anrufen sollte, um zu sehen, wie es ihnen ging, ließ es aber sein. Er fürchtete, sie könnten sich nach Darian erkundigen, und für so ein Gespräch war er noch nicht bereit.
Nach einer Woche rief Samantha an. Als er ihre Stimme auf dem Anrufbeantworter hörte, krampfte sich sein Herz zusammen.
«Laszlo, hier spricht Samantha. Ich hoffe, ich belästige Sie nicht. Ich wage nicht mir vorzustellen, wie Ihre letzten Tage gewesen sein müssen. Ich wollte nur sehen, wie es Ihnen geht. Falls Sie reden wollen, dann …»
«Ich bin da!», rief Laszlo in den Hörer.
«Laszlo», hauchte Samantha. «Schön, Ihre Stimme zu hören. Wie geht es Ihnen?»
«Ging mir schon mal besser.»
«Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich an Sie gedacht habe.»
«Ich musste auch oft an Sie und die Organisation denken.» Er machte eine Pause. «Und an die Kinder. Wie geht es ihnen?»
«Großartig», sagte Samantha mit warmer Stimme. Fast konnte er durchs Telefon ihr Lächeln sehen. «Ich komme gerade aus Oregon. Die beiden haben sich schon richtig an das Leben dort gewöhnt.»
«Und ihre Fähigkeiten? Sind sie …?»
«Die beiden sind bemerkenswert, Laszlo. Sie wären stolz.»
«Das bin ich.»
Samantha schwieg einen Moment. «Ich will Sie nicht drängen, aber haben Sie schon darüber nachgedacht, zurückzukommen? Vielleicht, wenn Sie einem höheren Ziel dienen könnten …»
Das Angebot, sein Schneckenhaus zu verlassen, war verführerisch. Allein das drückende Schuldgefühl hielt ihn zurück. Endlich seinen Platz gefunden zu haben, nachdem ihm Darian den Weg gewiesen hatte, ohne ihn mit ihr gemeinsam zu gehen …
«Geben Sie mir noch etwas Zeit? Ich muss einfach in Ruhe darüber nachdenken», sagte Laszlo schließlich.
«Selbstverständlich.»
«Danke.»
«Und … Laszlo?» Samantha zögerte. «Sie sind nicht allein … mir fehlt sie auch.»
Mit Tränen in den Augen legte Laszlo auf.
Zinser klopfte vorsichtig. Sekunden später stand Winter in der Tür, mit hochrotem Kopf.
«Oh, hallo, Miss Zinser!»
«Guten Abend. Darf ich reinkommen?»
«Ähm … klar.»
Zinser trat ein und schloss leise die Tür hinter sich. Sie nahm am Schreibtisch Platz, während Winter im Schneidersitz auf der Bettkante hockte. Zinser sah sich in dem Zimmer um. Größtenteils sah es noch so aus wie an dem Tag, als Winter eingezogen war. Nur die Geige auf dem
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