Gnosis
ratlos die Stirn.
«Stell dir die Farbe Grün vor. Sie existiert unabhängig von einem Objekt, das grün ist. Wenn morgen die ganze Welt ausgelöscht würde, gäbe es kein Gras mehr, aber immer noch die Farbe Grün. Weil Grün eine Vorstellung ist.»
«Ich glaube, ich verstehe», sagte Winter. «Eine andere Universalie wäre vielleicht Größe. Oder ein Gefühl.»
«Ganz genau», sagte Zinser. «Diese Universalien meine ich, wenn ich von platonischen Ideen spreche. Schopenhauer glaubte, einziger Sinn und Zweck der Kunst sei es, platonische Ideen zu kommunizieren.»
Winter betrachtete die Geige.
«Weißt du, vor welcher Kunst Schopenhauer den größten Respekt hatte?»
Winter schüttelte den Kopf.
«Musik.»
«Warum?»
«Schopenhauer teilte Kunst in zwei Gruppen ein, gemessen am Subjekt-Objekt-Kontinuum …»
«Dem was?»
Zinser überlegte, wie sie die Theorie am besten erklären könnte. «Okay. Stell dir vor, die Welt besteht aus Objekten – Dingen –, die von Subjekten – Menschen – wahrgenommen werden. Dann stell dir eine Linie vor, die zwischen einem Subjekt auf der einen Seite und einem Objekt auf der anderen verläuft. Das ist das Subjekt-Objekt-Kontinuum.»
«Kapiert.»
«Also, Schopenhauer sagte, die erste Gruppe der Künste – Architektur, Bildhauerei, Malerei und Dichtung – stünde eher auf der Objekt- Seite, weil sie alle durch ihre individuellen Ausdrucksmöglichkeiten beschränkt sind.»
Winter nickte. «Dichtung ist durch die Sprache limitiert, und wenn ein Dichter das grünste Grün beschreiben will, könnte es sein, dass es mit Worten nicht zu sagen ist.»
«Stimmt. Diese Kunstformen versuchen, Objekte darzustellen, die sich von ihnen unterscheiden. Das Bild von einem Baum mag aussehen wie ein Baum, ist aber kein Baum. So eindrucksvoll ein Haus sein mag, so großartig eine Skulptur, können diese Kunstformen die Wahrnehmung niemals perfekt nachahmen.»
«Aber die Musik kann es», sagte Winter.
«Ja», sagte Zinser lächelnd. «Musik steht viel weiter auf der Subjekt- Seite. Sie ist nicht durchs Medium beschränkt, denn sie ist gänzlich abstrakt. Schopenhauer war überzeugt davon, dass sie die natürliche Welt kopiert: Tiefe Töne repräsentieren unorganische Materie, Harmonien das Tierreich und Melodien den menschlichen Gedanken. Im Kern ist Musik eine Kopie des universalen Willens. Im Gegensatz zu allen anderen Kunstformen besteht Musik aus sich selbst heraus. Wie nichts anderes verkörpert sie abstrakte Gefühle und ermöglicht dem Zuhörer dadurch, die emotionale Essenz des Lebens wahrzunehmen, ohne zu leiden. Dadurch erweckt sie den Geist zur ästhetischen Wahrnehmung.»
Zinser nahm Winters Hand.
«Winter, ich halte dich für ein Schopenhauer-Genie. Deine Musik ist atemberaubend … und in Verbindung mit deiner Gabe …»
Zinser sprach nicht weiter und sah ihr tief in die Augen. Das Mädchen wich nicht aus. Sekundenlang saßen die beiden reglos da, sie starrten sich nur an.
«Also, es wird spät», sagte Zinser schließlich und beendete den Augenblick. «Ich hoffe, du hast Freude an der Geige. Nutze sie zu einem guten Zweck.»
«Bestimmt!», sagte Winter und drückte das Instrument an ihre Brust.
«Gute Nacht, Winter.»
«Gute Nacht, Miss Zinser.»
Leise schloss Zinser die Tür hinter sich und wartete. Sekunden später war der Flur von Winters herzerwärmender Musik erfüllt. Zinser stand an die Wand gelehnt und hörte aufmerksam zu. Das Gespräch war gut gelaufen. Doch spielte sie ein gefährliches Spiel. Sie ermutigte die Kinder, ihre Kräfte einzusetzen, um sie gleichzeitig dem Willen der Organisation zu unterwerfen.
Aber ihr blieb kaum etwas anderes übrig. Die Kinder kontrollieren zu wollen, solange sie ihre Fähigkeiten nicht perfektioniert hatten, war sinnlos. Also balancierte Zinser weiter auf ihrem Drahtseil. Sie hoffte nur, dass sie auf der anderen Seite ankommen würde, ohne vorher abzustürzen.
«Es ist jetzt schon über drei Wochen her.»
«Ich brauche mehr Zeit.»
«Nein. Wenn er jetzt noch nicht aus freien Stücken gekommen ist, dann kommt er nie. Benutzen Sie das Mädchen.»
«Darf ich Sie zu einem Drink einladen?»
Laszlo war so überrascht, diese Stimme zu hören, dass er fast vom Barhocker fiel.
«Samantha!», sagte er und drehte sich um. «Wie haben Sie mich gefunden?»
«Nur so eine Ahnung.» Zinser gab sich scheu. «Darian hatte mal erwähnt, dass Sie früher manchmal hier waren.»
«Oh», sagte Laszlo und trank seinen Scotch
Weitere Kostenlose Bücher