Gnosis
erschöpft zurück.
«Wie haben Sie …?» Jills Stimme erstarb, während sie ihre rechte Hand anstarrte, die wie eingefroren in der Luft hing.
«Samantha hat dich noch nie berührt, oder?»
«Doch, natürlich hat sie», sagte Jill eilig.
«Bist du sicher, dass sie dabei nicht so ein Ding hier getragen hat?» Laszlo holte einen dünnen, hautfarbenen Handschuh aus der Tasche und legte ihn aufs Bett.
«Woher haben Sie das?», fragte Jill und hob den Gummihandschuh an, als wäre er infiziert.
«Von einem der Wächter», sagte Laszlo. «Du musst ihre Haut berühren – nicht den Handschuh», sagte Laszlo. «Dann bilden sich Risse in dem Schutzschild, und du kannst ihr Bewusstsein spüren.»
Jill nickte gedankenverloren. «Samantha hat die ganze Zeit Handschuhe getragen? Sie hat mich nie … nie wirklich angefasst?»
Laszlo fühlte Jills Schmerz. Aber nur indem er ihr die Wahrheit zumutete, konnte er sie vor künftigem Schaden bewahren.
«Es tut mir leid, Jill.»
Jill kaute auf ihrer Unterlippe herum und starrte zu Boden. «Ich muss darüber nachdenken», sagte sie schließlich mit erstickter Stimme.
«Also gut, bis morgen Abend dann.»
Jill zog die Nase hoch und nickte. Laszlo ging zur Tür. Leise klopfte er zweimal, und Tom machte auf. Laszlo sah zu Jill hinüber, doch sie hatte sich schon abgewandt. Er spürte nicht, was sie fühlte, aber das musste er auch nicht.
Er sah ihre bebenden Schultern im flackernden Lichtschein und wusste, dass sie weinte.
KAPITEL 45
«Nach Charlie hat Laszlo keine neuen Kinder mehr gefunden», sagte Samantha. Sie saß hinter ihrem Schreibtisch und musterte Jill. «Glaubst du, irgendwas stimmt nicht?»
«Nein», sagte Jill etwas zu schnell. «Ich meine … woher soll ich das wissen?»
Samantha beugte sich vor. «Hast du ihn noch im Griff?»
«Natürlich.»
Jill gab sich alle Mühe, Samanthas Hände nicht anzustarren. Es war doch unglaublich, dass sie es vorher nie gesehen hatte – dieses unnatürliche Glänzen von Samanthas Handgelenken bis zu ihren kurzen, unbemalten Fingernägeln.
Noch offensichtlicher war, wie sich Samantha anfühlte – oder besser: wie sie sich nicht anfühlte. Sie wirkte froh und liebevoll, doch spürte Jill schmerzlich, dass Samanthas Emotionen keineswegs darauf reagierten, was um sie herum geschah. Es war wie ein Film, bei dem der Ton nicht ganz mit dem Bild übereinstimmte. Jill konnte nicht fassen, dass sie sich so lange hatte täuschen lassen.
Weil du die Wahrheit nicht wissen wolltest. Weil du glauben wolltest, dass sie dich liebt. Weil du sie nämlich auch -
HALT DIE KLAPPE!
Jill atmete scharf ein. Sie wollte nichts mehr hören. Laszlo mochte die Wahrheit gesagt haben, aber sie hatte trotzdem das Recht, ihn zu hassen. Was sie auch tat. Sie hasste ihn dafür, dass er ihre Phantasie zerstört hatte. Dass sie nun auch dem einzigen Menschen misstraute, dem sie noch vertraut hatte.
Sie musste wissen, was Samantha wirklich empfand. Und dafür würde Jill sie berühren müssen. Wie üblich zeigte Samantha wenig Haut. Sie trug einen schwarzgrauen Blazer über einer schneeweißen Bluse und einen konservativen, schwarzen Rock.
Während Samantha sprach, neigte Jill den Kopf, um erkennen zu können, ob Hals und Kinn glänzten wie die Hände. Aber dort schien die Haut nicht bedeckt. Sie musste Samantha also im Gesicht berühren.
Jill hatte oft davon geträumt, Samanthas Wange zu streicheln, ihre blassen, schmalen Lippen auf Samanthas vollen, roten Mund zu drücken. Sie wusste, dass es Sünde war, dass es nie geschehen würde, aber das hatte sie nicht daran hindern können, davon zu träumen. Jill hatte sich vorgestellt, wie schön dieser Moment sein würde, doch nun erwartete sie nur Schmerz. Am liebsten hätte sie sich auf den Boden geworfen und …
«Jill, hörst du mir eigentlich zu?» Jill reagierte nicht. «Jill? Was ist denn?»
Langsam hob Jill den Kopf und lenkte alle Trauer, die sie in sich hatte, in ihre großen, feuchten Augen. Das war nicht schwierig.
«Ich … ich weiß nicht, ob ich so noch weitermachen kann.»
«Wie meinst du das?», fragte Samantha mit ängstlicher Stimme, obwohl ihre Emotionen nichts als Wärme projizierten.
«Ich bin nicht mehr wichtig», sagte Jill mit gesenktem Blick. «Ihr habt jetzt Laszlo … und die anderen Kinder. Es ist nicht mehr wie früher. Als ich noch allein war.»
Jill schniefte und versuchte, den Kloß im Hals herunterzuschlucken. Was sie sagte, stimmte. Aber das war nicht der Grund,
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