Gnosis
schlug die Augen auf. Sie erschrak so sehr, dass ihr die Tränen kamen.
Er hielt ihr den Mund zu, bevor sie schreien konnte. Als er ihre Lippen berührte, biss sie zu, und ihre Sinne tobten durch sein Bewusstsein. Laszlo atmete scharf durch die Nase ein und versuchte, den Schmerz zu kontrollieren.
«Ich will nur mit dir reden!», zischte Laszlo.
Er öffnete seinen Geist, damit sie sah, dass er die Wahrheit sagte. Unmöglich hätte er dem Kind etwas antun können. Sie war ein Opfer, wie alle anderen auch. Wollte er die Kinder retten, musste er bei ihr den Anfang machen. Langsam beruhigte sich Jill. Ihr Biss lockerte sich, und er nahm seine schmerzende Hand von ihrem Mund.
«Danke.» Er zog zwei Taschentücher aus der Schachtel neben ihrem Bett und wickelte sie um seine blutende Hand.
«Was wollen Sie?», fragte Jill.
«Ich will die Kinder befreien», sagte Laszlo, in der Hoffnung, dass ihr die Wahrheit genügen würde. «Und dafür brauche ich deine Hilfe.»
«Warum wollen Sie sie befreien?», fragte Jill.
Erst hielt Laszlo sie für trotzig, doch dann stellte er fest, dass sie wirklich durcheinander war.
«Weil sie wieder bei ihren Eltern sein sollten.»
Für einen Moment konnte er ihre Einsamkeit riechen, doch Jill hielt augenblicklich an sich.
«Die gehören nicht mehr zu ihren Eltern», sagte sie. «Sie gehören hierher.»
«Wer sagt das?», fragte Laszlo.
Jill sah ihn mit großen Puppenaugen an. «Samantha.»
Bei der Erwähnung dieses Namens nahm Laszlo deutlich wahr, wie die Gefühle des Mädchens kurz aufblitzten. Sie versuchte, ihre Empfindungen zu verbergen, doch sie arbeiteten in ihr und gaben zwei unverkennbare Gerüche ab. Der erste bedeutete Liebe. Das erstaunte Laszlo nicht, da Samantha für Jill so etwas wie eine Ersatzmutter war. Doch der andere Geruch überraschte Laszlo umso mehr: Lust.
Er gab sich Mühe, sein Erstaunen zu verbergen, doch Jill hatte es wohl schon gemerkt, denn sie zog sich sofort zurück, und ihr Geist war mit schwitzender Verlegenheit umnebelt.
«Jill … was Samantha dir auch erzählt haben mag … es war gelogen.»
Die Scheu verflog, um umgehend einem Geruch zu weichen, der an frisches Blut erinnerte.
«Nein. Sie liebt mich.» Jills Stimme klang zuversichtlich, doch Laszlo sah, wie erschüttert sie war. «Ich kann es sehen.»
«Das glaubst du.» Laszlo fühlte sich schrecklich, weil er die Gefühle dieses Mädchens verletzen musste, aber es gab keine andere Möglichkeit. «Ist dir aufgefallen, dass sie immer gleich empfindet? Hast du dich schon mal gefragt, warum das so ist?»
«Sie ist eben … ausgeglichen, das ist alles», sagte Jill verzweifelt.
«Leider nicht, Jill», sagte Laszlo. Er musste zugeben, dass es clever von Samantha war, dem Mädchen Liebe vorzugaukeln. Sie hatte Laszlo lange für dumm verkauft, da war es wohl kein Wunder, wenn sie auch Jill täuschen konnte. Hätte ihm Dietrich nichts von den Tesla-Boxen erzählt, zappelte er wahrscheinlich jetzt immer noch an ihrem Haken.
«Ihre Empfindungen verändern sich nie, niemals», sagte Laszlo. «Sie reagiert auf rein gar nichts.»
Jill schwieg. Vorsichtig tastete er nach ihrem Geist, doch sie hatte ihn schon ausgesperrt.
«Du darfst ihr nicht vertrauen», sagte Laszlo. «Du weißt nicht, was sie in Wirklichkeit vorhat. Mit den Kindern. Mit mir. Mit dir. »
Jill sagte nichts, doch ihr Schweigen verriet Laszlo alles, was er wissen musste. Möglicherweise konnte er ihren Geist nicht beeinflussen, aber er war sicher, dass er sie überzeugen würde.
«Du musst mir nicht glauben. Du kannst es überprüfen.»
«Wie?»
«Ich zeig dir, wie man sie durchschaut. Wie man sie wirklich durchschaut.» Laszlo wartete einen Augenblick. «Falls sie dich tatsächlich belügt … hilfst du mir dann?»
Mehrere Gefühle wirbelten gleichzeitig in ihr auf, doch Laszlo konnte sie nicht deuten.
«Okay», sagte Jill schließlich.
«Abgemacht?»
Laszlo reichte ihr die Hand. Jill sah ihn zweifelnd an, nahm schließlich aber doch seine Hand. Als sich ihre Finger berührten, übertrugen sich schlagartig Jills Gefühle auf ihn. Er hielt ihre Hand fest.
So ließ sie schließlich ihren psychischen Schutzschild sinken. Fast war Laszlo von den Gerüchen überwältigt, die ihm jetzt in die Nase stiegen – eine ekelhafte Mischung aus kränklicher Furcht, lederner Hoffnung und terpentinstinkender Kopflosigkeit, und vor allem modrige, tiefsitzende Wut, bei der Laszlo ganz kalt wurde. Er befreite seine Hand und zog sie
Weitere Kostenlose Bücher