Gnosis
erwarten, hineinzugehen. Mit klimperndem Schlüsselbund öffnete Schwester Sanchez die Tür. Der Raum war kühl, und als Erstes fiel Darian der beißende Uringestank auf. Dieser war so übermächtig, dass sie Elijahs animalisches Geschrei kaum wahrnahm. Sein rotes Haar war schweißnass und klebte lang und strähnig im Gesicht. Die Augen waren weit aufgerissen, doch nach den Pupillen zu urteilen, nahm er nicht wahr, was um ihn herum geschah.
Vorsichtig wollte sie sein Gesicht berühren. Er riss den Kopf weg und schrie noch lauter. Darian nahm allen Mut zusammen und packte seinen Kopf. Die Woge seiner Emotionen traf sie so hart, dass sie fast zusammenbrach. Ein gewaltiges Chaos lärmte in ihr.
Zorn, Schmerz, Scham, Entsetzen, Verwirrung, Hass, Trauer, Jubel – Explosionen wütender Gefühle und eine Dunstglocke aus medikamentöser Apathie. Sie hoffte, dass es noch nicht zu spät war. Bei seinen empathischen Fähigkeiten und seiner momentanen Wehrlosigkeit konnte es nicht lange dauern, bis sich die Psychosen der anderen Patienten bei Elijah festgesetzt hatten und er nur noch ein zitterndes Häufchen Elend war. Sie verließ ihren Körper und drang langsam in Elijahs rasendes Bewusstsein ein.
Um sie herum tobten die Emotionen und bedrängten ihre Psyche. Doch Darian gab nicht nach. Langsam bekam sie die Umgebung in den Griff und verschanzte sich hinter einer Mauer von Gelassenheit. Und dann spürte sie ihn, Elijahs wahres Ich, es kauerte dort tief in ihm, erschreckt und wehrlos.
Sie wollte ihm Kraft verleihen und ihn von den Qualen befreien. Sie rang den feurigen Zorn, das Grauen nieder, die auf Elijah eindrangen, und Elijah seufzte. Langsam zog Darian sich wieder zurück. Sie hatte ihm geholfen, sein Bewusstsein mit einem wehrhaften Schild zu umgeben.
Doch sie durfte ihn noch nicht allein lassen, weil sonst die irren Geister mit voller Wucht zurückkehren würden. Aber sie ließ ihm so viel Freiraum wie möglich. Als sie wieder zu sich kam, merkte Darian, wie sie am ganzen Körper schwitzte und die Zähne so fest zusammenbiss, dass ihr Unterkiefer schmerzte.
«Elijah …», sie rüttelte ihn an der Schulter, «… kannst du mich hören?»
Sie fragte sich, ob sie zu spät gekommen war, ob der Strudel der Gefühle seine Psyche bereits in die Tiefe gerissen hatte. Dann zwinkerte er und sagte ein einziges Wort: «Ja.»
«Welches Jahr haben wir?»
«Wieso?», fragte er und sah sie verwundert an. «Oh, Scheiße … Sagen Sie nicht, Sie kommen aus der Zukunft.»
Darian lächelte. Er würde in Ordnung kommen. Sie beugte sich vor und löste seine Fesseln.
«Wir haben keine Zeit für Fragen. Vertrau mir. Ich bin auf deiner Seite.»
«Gegen wen denn?»
«Die Leute, die dich hierbehalten wollen.»
Furcht und schreckliche Reue durchzuckten ihn.
«Ich gehöre hierher!», flüsterte Elijah. «Ich habe einen Menschen umgebracht.»
«Beinahe. Aber du bist kein Mörder. Er wird eine Weile im Krankenhaus bleiben müssen, aber er wird es überleben.»
«Wirklich?», fragte Elijah hoffnungsvoll.
«Wirklich.» Sie übertrug warme Ruhe und Zuversicht auf ihn. «Wie wär’s, wenn wir uns jetzt mal auf die Socken machen?»
«Bitte nach Ihnen.»
KAPITEL 2
30. DEZEMBER 2007 – 22:48 UHR (25 STUNDEN, 12 MINUTEN BIS ZUR NACHT DES JÜNGSTEN GERICHTS)
«Schwester!» Darian klopfte laut an die Tür. «Schwester!»
Sanchez erschien im kleinen Fenster, und Darian bedeutete ihr, dass sie aufschließen solle. Sie schob den Schlüssel ins Schloss, und die Tür öffnete sich nach innen. Darian riss sie auf. Sanchez machte große Augen, als sie Elijah sah.
«Mr. Glass gehört nicht hierher», sagte Darian.
Zwar wollte sie der armen Krankenschwester nicht wehtun, andererseits war es nicht der richtige Moment für Zimperlichkeiten. Darian öffnete sich. Sofort stürmten die wirren Gedanken der Patienten auf sie ein.
Nur ein paar Minuten. Du kannst es schaffen.
Darian schluckte den Schmerz herunter und packte Sanchez bei den Handgelenken.
«Schwester, ich befehle Ihnen, mir bei der Entlassung dieses Patienten zu helfen!»
Darians Herz raste, ihr Atem war ein Hecheln. Die Anstrengung, die kranken Geister von Elijah fernzuhalten, während sie gleichzeitig auf Sanchez einwirkte, war fast mehr, als sie ertragen konnte. Wenn die Schwester nicht bald nachgab, blieb Darian nichts anderes übrig, als sie noch fester zu verdrehen, was die Frau den Verstand kosten konnte.
«O-o-o-o-kay», stammelte Sanchez.
Darian ließ ihr
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